Brauchen wir mehr Krimis ohne weibliche Opfer?
Die kanadische Schriftstellerin Bridget Lawless hat einen Preis ausgerufen: Für Krimis, die ohne die klassische weibliche Opferrolle auskommen. Tatsächlich gebe es ein Problem mit weiblichen Opfern, sagt die Krimi-Expertin Sonja Hartl: "Wir haben davon zu viele, und ihnen werden zu viele schreckliche Dinge angetan."
Andrea Gerk: Über Gewalt gegen Frauen wird seit der #MeToo-Debatte viel und vielschichtig diskutiert. Die Film- und Theaterbranche verordnet sich selbst neue Verhaltensregeln und richtet Beschwerdestellen ein. Auch der Literaturbetrieb reagiert. So hat die kanadische Schriftstellerin und Drehbuchautorin Bridget Lawless einen Preis für Kriminalromane ausgerufen, der soll Thriller auszeichnen, in denen keine Frauen geschlagen, gestalkt, vergewaltigt oder sogar ermordet werden.
Welche Fragen so ein Preis aufwirft, darüber möchte ich jetzt mit meiner Kollegin und Filmkritikerin Sonja Hartl sprechen. Guten Morgen, Frau Hartl!
Sonja Hartl: Guten Morgen!
Gerk: Wie finden Sie denn die Idee von Bridget Lawless? Ist das eigentlich erst mal eine gute Idee, sowas zu machen?
"Es gibt ein Problem mit weiblichen Opfern im Krimi"
Hartl: Also ich stehe dieser ganzen Idee sehr ambivalent gegenüber, weil auf der einen Seite hat sie natürlich recht: Es gibt ein Problem mit weiblichen Opfern im Krimi. Wir haben davon zu viele, und ihnen werden zu viele schreckliche Dinge angetan, aber auf der anderen Seite ist Gewalt gegen Frauen ein gesamtgesellschaftliches Problem, um das wir uns kümmern müssen, und ich glaube, das kann man oder sollte man auch gerade in der Literatur machen.
Gerk: Sind das denn eindeutig mehr weibliche Opfer als männliche?
Hartl: In der Kriminalliteratur ja.
Gerk: Aber in der Realität ja nicht.
Hartl: Nein, das ist ja so ein bisschen das Paradoxe. Wenn man sich die Kriminalstatistik von Deutschland anguckt aus dem Jahr 2016, dann merkt man, dass es etwa doppelt so viele männliche Opfer von Mord, Tötungsdelikten und Körperverletzungstaten gibt. Bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, da sind Frauen in der weit überwiegenden Mehrheit. Das sind über 93 Prozent, aber bei allen anderen sind es mehr Männer, und es gibt noch einen großen Unterschied, dass fast 60 Prozent aller weiblichen Opfer den Täter kennen. Das heißt nicht zwangsläufig, dass sie mit ihm in einer Beziehung standen, aber sie wissen, wer es war, sie sind ihm mal begegnet oder sowas.
Gerk: Wie interpretieren Sie denn das, also was sagt das aus über unsere Gesellschaft oder den Kriminalroman, dass das so ist?
"Das wird benutzt, damit man den Voyeurismus bei den Lesern bedient"
Hartl: Ich glaube, dass es im Kriminalroman auf der einen Seite sicherlich diesen Anspruch gibt, darauf aufmerksam zu machen, hier, Frauen werden ganz Opfer, aber Frauen als Opfer im Kriminalroman sind auch oft ein einfacher Plot-device. Das wird benutzt, damit man den Voyeurismus bei den Lesern bedient. Wenn eine Frau ein Opfer wird von einem Verbrechen, das auch noch sehr detailliert geschildert wird, dann weckt das auch sofort Gefühle bei dem Leser. Auf einmal ist er sofort engagiert dabei.
Was meiner Meinung auch eine Rolle spielt, die immer so ein bisschen unterschätzt wird, ist, dass auf der einen Seite die weiblichen Opfer sind, aber auf der anderen Seite die männlichen Täter, die dann in diesen Fällen ermitteln, in denen eine Frau geschlagen, ermordet oder vergewaltigt wurde, und damit können die noch so kaputt sein und noch so ein kaputtes Privatleben haben oder sich sonst wie mies verhalten, aber in dem Moment, in dem sie sich um die Frau kümmern, wird ihre Heldenrolle und auch ihre Männlichkeit so ein bisschen verstärkt.
Gerk: Aber es gibt ja auch ganz viele inzwischen sehr toughe weibliche Ermittlerinnen. Ich denke, mir fiel dann gleich Simone Buchholz ein mit ihrer Chastity Riley oder wenn man ein bisschen weiter zurückgeht, Doris Gercke mit Bella Block, und das ist ja schon inzwischen so ein Gesetz, das Motiv auch. Gleicht das das nicht aus?
Hartl: Ich finde ja. Also ich finde, es hilft ein bisschen, wenn ich das weibliche Opfer habe, aber auf der anderen Seite auch eine weibliche Ermittlerin, weil es heißt ja auch immer, dass der Grund, warum es so viele weibliche Opfer gibt, auch ist, dass sich Frauen, die mehrheitlich Krimis kaufen und auch lesen, sich dann damit identifizieren können, und dann denke ich mir immer, ja, das ist auf der einen Seite sicherlich richtig, man identifiziert sich damit, das sagt aber auch viel über unsere Gesellschaft aus, dass sich Frauen mit der Opferrolle identifizieren.
Hier kann Literatur so ein Gegenangebot machen, was mit zum Beispiel Chastity Riley gemacht wird, die dann einfach eine toughe Frau ist, die aber auch eine vollumfängliche Ermittlerin bleibt, die ist nicht einfach nur tough, und deswegen setzen diese starken Ermittlerinnen schon einen Gegenpunkt. Das, denke ich, ja.
Gerk: Fällt Ihnen denn ein Beispiel ein, woran man das mal zeigen kann, wie sowas funktioniert, wenn da Gewalt ebenso voyeuristisch instrumentell eingesetzt wird?
"Da geht es dann nur noch um die Sensationsgier"
Hartl: Also es gibt da gerade bei vielen amerikanischen Thrillern auf der Beststellerliste sicherlich einige Beispiele. Sehr bekannt ist dafür Karin Slaughter, die sehr, sehr viel Gewalt hat, aber auch bei ihr merkt man mittlerweile so einen kleinen Wandel. Also sie hatte vor zwei Jahren einen Roman, "Pretty Girls", da geht es um die Auswirkung eines Verbrechens.
Das Verbrechen an sich wird immer noch ganz schrecklich geschildert, aber es gibt auch dieses Bemühen, da zu zeigen, es gibt auch Frauen, die sind von dem Verbrechen indirekt betroffen, und die finden einen Weg daraus. Das sind die Schwestern von dem Opfer, und die müssen mit der Gewalt leben.
Im deutschsprachigen Bereich ist mir wirklich als eines der negativsten Beispiele leider in Erinnerung geblieben von Veit Etzold, "Dark Web". Da geht es eigentlich um so eine Spionagegeschichte im Dark Web, aber dort gibt es auch einen Arzt, der Sexpuppen herstellt, wozu Frauen aus Osteuropa oder Afrika entführt werden und verstümmelt werden, also wirklich gebrochen werden, und da geht es dann nur noch um die Sensationsgier und darum, den perversesten Thrill zu schaffen.
Gerk: Gibt es denn auch schon Krimis, die das eigentlich so thematisieren auch, dieses Thema, über das wir sprechen, dass Frauen eben häufiger Opfer von Gewalt sind im Krimi, in dieser Art von Darstellung, die genau das zum Thema auch machen?
Hartl: Ja, die gibt es auch. Das ist dann sicherlich sehr bekannt, Denise Mina oder auch Monika Geier aus dem deutschsprachigen Bereich, und wen ich da wirklich sehr exemplarisch finde, ist Liza Cody, die mit "Lady Bag" eine Figur geschaffen hat, das ist eine Obdachlose, die auf den Straßen von London lebt.
Und man erfährt dann aus ihrer Perspektive, weil es ist aus ihrer Perspektive geschildert, dass sie früher einmal in einer missbräuchlichen Beziehung war, in der es zu psychischer und auch physischer Gewalt kam, und das hat sie so fertig gemacht, dass sie jetzt auf der Straße lebt und da natürlich als Obdachlose immer noch mehr Gewalt erfährt.
Das ist so eine Behandlung von den verschiedenen Arten von Gewalt. Das darf man ja auch nicht vergessen: Es gibt ja nicht nur die physische Gewalt, es gibt ja auch psychische und strukturelle Gewalt, bei dem man, wenn man dieses Buch liest, wirklich ungeheuer viel Empathie entwickelt für die Situation dieser Frau.
Gerk: Und es gibt ja Gewalt auch nicht nur in der Kriminalliteratur, sondern das ist ja eine ganz alte Debatte, wie kann man überhaupt Gewalt literarisch darstellen, darf man das, wie weit kann man da gehen. Würden Sie sagen, dass das im Kriminalroman auch noch mal … Was ist da eigentlich anders, als wenn man jetzt an "American Psycho" oder sowas denkt?
"Gewalt wird viel verhandelt im Kriminalroman"
Hartl: Ich glaube, dass es in der Kriminalliteratur schon überproportional häufig Gewalt an sich gibt. Gewalt wird viel verhandelt im Kriminalroman, und dazu kommt dann auch Gewalt gegen Frauen. Aber man muss auch hier immer sehen, dass es auf das Wie ankommt, also wie behandele ich das, und ich glaube, es gibt im Kriminalroman noch andere Grenzen in der Gewaltdarstellung, das reicht so ein bisschen zurück in die Klassiker.
Also wenn man sich so anschaut, was Jim Thompson gemacht hat oder James Elroy oder auch Derek Raymond, das sind teilweise wirklich sehr, sehr verstörende Romane, und damit hat sich so ein bisschen so eine harte Schreibweise etabliert, die auch oft in Krimis zu finden sind von Autoren, die sich gerne in diese Tradition stellen wollen, und ich glaube, das ist schon ein Unterschied von Kriminalliteratur zu anderer Literatur.
Gerk: Aber wenn das so funktioniert, wie Sie es vorhin an diesem positiven Beispiel beschrieben haben, dann kann Kriminalliteratur ja auch doch noch mal was mehr, als wenn man jetzt einfach eine Reportage über Gewalt gegen Frauen oder ein feministisches Manifest liest, nicht?
Hartl: Ja, das finde ich auch, und das ist auch mein Hauptproblem mit diesem Kriminalroman. Ja, sie hat einen Punkt, und sie hat ihr Ziel – also Bridget Lawless …
Gerk: Mit dem Preis.
Hartl: Genau. Bridget Lawless hat ihr Ziel, die Debatte darüber neu anzufachen, auch sicherlich erreicht, aber ich glaube, man erreicht letztlich immer mehr, wenn man über Dinge spricht und über Dinge schreibt, als wenn man sie totschweigt, und theoretisch wäre es ja bei diesem Preis auch möglich, Bücher einzureichen, in denen einfach gar keine Frauen vorkommen, und das gibt es in der Kriminalliteratur ja auch immer noch.
Gerk: Also schon gut gemeint, aber vielleicht noch ein bisschen zu schlicht gedacht, dieser Preis.
Hartl: Ja, allerdings!
Gerk: Sonja Hartl, vielen Dank für dieses Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.