SprecherInnen: Luise Wolfram, Alexander Ebeert, Christiane Guth
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Ralf Perz
Redaktion: Dorothea Westphal
Damals hinterm Mond
29:47 Minuten
Auffällig oft begeben sich derzeit Autorinnen und Autoren auf eine persönliche Spurensuche zurück in die alte Bundesrepublik. Ist der Rückblick 30 Jahre nach dem Mauerfall eine Art Westalgie oder die Erinnerung an ein abhanden gekommenes Land?
"Kohl war immer da gefühltermaßen und würde auch immer bleiben, also in diesem Bewusstsein bin ich schon aufgewachsen", sagt die Autorin Daniela Dröscher. Dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer erinnern sich Autorinnen und Autoren an das Land ihrer Kindheit - die alte Bundesrepublik.
Auch Ulrich Woelk geht in seinem neuen Roman "Der Sommer meiner Mutter" zurück in einen Vorort von Köln, in dem er aufgewachsen ist:
"Was man immer noch mal findet, eher natürlich in kleinen und mittleren Städten, das ist dann immer ein bisschen so wie ein Déjà Vu, das sind so diese typischen 70er-Jahre-Fußgängerzonen."
Jan Brandt sieht bei seinem literarischen Rückblick eine Parallele zu Ostdeutschland:
"Für mich gab es auch in Westdeutschland eine Wende. Nur die hat sich eben sehr viel langsamer vollzogen als in Ostdeutschland. Und die biografischen Brüche sind nicht so hart, natürlich."
Und David Wagner schreibt in seinem aktuellen Buch "Der vergessliche Riese" über seine Rückkehr in die Nähe von Bonn, wo er aufwuchs. Seit fast dreißig Jahren lebt Wagner inzwischen in Berlin. Die Demenzerkrankung seines Vaters, des "vergesslichen Riesen", führt nicht nur zu einer Annäherung zwischen Vater und Sohn, sondern bringt den Autor auch der Landschaft seiner Kindheit wieder näher.
"Plötzlich findet eben auch eine Wiederbegegnung mit diesem Westdeutschland statt. Und ich sag jetzt Westdeutschland ganz bestimmt, das ist Westdeutschland politisch, und das ist auch noch mal der Westen von Westdeutschland, also die Landstriche, die man wirklich als den Westen bezeichnet."
Konsumfreude und Kriegstrophäen
Der "vergessliche Riese" lebt in einem komfortablen Eigenheim mit Glasfassade. Das technische Inventar ist für ihn allerdings kaum noch beherrschbar. Auf der Suche nach einer Wasseruhr geraten Vater und Sohn in das Kellerlabyrinth des Hauses, in dem sich aussortierte Konsumgüter stapeln, die eine bundesrepublikanische Wohlstandsgeschichte erzählen.
"Diese Generation, zu der "der vergessliche Riese", gehört, natürlich, denen ging es gut, die haben viel verdient und haben konsumiert. Noch im Krieg geboren, also mit dem Wissen darüber, dass es einem sehr schlecht gehen kann, das ist natürlich dieser Generation und diesem Land schon eingeschrieben. Aber daher auch das gute Gewissen, doch auch genießen zu dürfen, ohne Reue."
Bei ihrer Suche im Keller stoßen Vater und Sohn jedoch nicht nur auf die abgestellten Zeugnisse westdeutscher Konsumfreude, sondern auch auf eine Kriegstrophäe, einen schweren Messingmörser, den der Großvater des Ich-Erzählers vom Russlandfeldzug mitgebracht hat.
"Das darf man eben auch nicht vergessen, dass dieser Wohlstand oder die Erfolgsgeschichte des Landes eben auf dem Zweiten Weltkrieg beruht."
Eine Erosion gewachsener Strukturen
Das Dorf, in das der Schriftsteller Jan Brandt zurückkehrt, ist das Dorf, in dem er aufwuchs: Ihrhove in Ostfriesland. In seinem Buch "Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt" dokumentiert er seine schwierige Wohnungssuche in Berlin und seine temporäre Rückkehr in seine ostfriesische Heimat.
"Wenn man jetzt auf das Westdeutschland der 80er Jahre guckt beispielsweise, dann ist auch davon nicht mehr viel erhalten. Die ganzen Geschäfte existieren eigentlich nicht mehr, und die Leute treffen sich, wenn überhaupt, dann nur noch im Supermarkt, beim Arzt oder im Altenheim. Also obwohl das Dorf wächst, anders als in manchen ostdeutschen kleinen Dörfern, ist es so, dass der soziale Zusammenhalt zerbrochen ist."
Jan Brandt beobachtet in seiner ostfriesischen Heimat eine ganz ähnliche Entwicklung wie sie in Ostdeutschland nach dem Mauerfall gemacht wurde: eine Erosion gewachsener Strukturen, Heimats- und Identitätsverlust, ein Verschwinden von Öffentlichkeit und Gemeinschaft. Allerdings, wie er bei einem Treffen mit ehemaligen Mitschülern feststellt, mit weit weniger drastischen Folgen.
Die uterale Kohl-Ära
In der Gegend, in der Daniela Dröscher aufwuchs, im Hunsrück, sei Armut durchaus präsent gewesen, sagt die 1977 geborene Autorin, auch wenn sie selbst davon verschont worden ist:
"Von Westalgie bin ich weit entfernt. Ich hab 'Generation Golf' mal wiedergelesen vor ein, zwei Jahren, das ist interessant, weil ich dachte, ja, ich war dieses Mädchen mit dem Scout-Ranzen. Aber ich hab immer die anderen gesehen, die das nicht hatten. Im Nachhinein finde ich das auch ein fatales Etikett, dieses Etikett 'Generation Golf'. Das macht alles gleich. Das ist die Erzählung, alle hatten das. Und das hatten nie alle. Die Hierarchien waren immer da."
In ihrem autobiografischen Buch "Zeige deine Klasse" erzählt Daniela Dröscher die Geschichte ihrer sozialen Herkunft. Sie entstammt einer westdeutschen Kleinfamilie, die sich in den 1970er und -80er Jahren in der Mitte der Gesellschaft etabliert hat. Der Wohlstand wächst. Bald wird das Einfamilienhaus bezogen. Es sind die fetten Jahre der Helmut-Kohl-Ära.
"Ich nenne das für mich immer diese uterale Kohl-Ära. Also dieses ganz Geschützte, Geborgene, Satte, das kann man sich total kritisch anschauen, muss man auch, aber das ist ungemein prägend. Eine allumfassende Sicherheit, in der aufzuwachsen, das kann ich mir heute schwer noch vorstellen."
Konventionen und Revolutionen
Der Roman "Der Sommer meiner Mutter" von Ulrich Woelk spielt in Köln, wenn auch größtenteils in der Peripherie, wo der Autor auch selbst aufgewachsen ist.
Er taucht ein in das Mittelschichtmilieu dieser Stadtrandsiedlung, wo der elfjährige Ich-Erzähler im neu errichteten Eigenheim eine sorgenfreie Kindheit verbringt. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater Ingenieur. Alles hat seine Ordnung, bis im Nachbarhaus mit der Familie Leinhard auch der Spirit von 1968 in die verschlafene Vorstadt einzieht.
"Ich kann mich auch gut daran erinnern, dass das für meine Eltern schon – die waren eigentlich tolerant, zwar rheinländische Katholiken, aber nicht verbohrt -, aber das war für sie trotzdem schon mit vielen Zumutungen versehen, das, was da gefordert wurde mit der Befreiung der Frau und freie Liebe usw."
Mit seinem Roman schreibt Ulrich Woelk auch ein Stück bundesrepublikanische Sitten- und Mentalitätsgeschichte der späten 60er Jahre. Während Neil Armstrong den Mond betritt, versammelt man sich vor dem einzigen Farbfernseher im Umkreis, in den Gärten der Siedlung wird Krocket gespielt und gegrillt. Doch das gesellige Beisammensein hinter gepflegten Hecken kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass einiges im Umbruch ist.
Der Roman führt in eine Zeit, in der das gesellschaftliche Korsett eng und der Fortschrittsglaube ungebrochen war. Eine Zeit kurz vor der Gründung der RAF und lange vor dem Einzug der Grünen ins Parlament.
Verschwundene, alte Bundesrepublik
David Wagner, Ulrich Woelk, Daniela Dröscher und Jan Brandt haben inzwischen längst eine neue Heimat in Berlin gefunden. In ihren Büchern kehren sie zurück an die Orte ihrer Herkunft und erinnern sich an ihre Kindheit und Jugend. Manchmal ein wenig wehmütig, selten nostalgisch, niemals sentimental. Es geht ihnen darum, herauszufinden, was sie geprägt hat in der alten Bundesrepublik – die, das machen diese Rückblicke deutlich, inzwischen ebenso verschwunden ist wie die DDR.