Literarische Kamerafahrten
"Afterdark", der mittlerweile neunte Roman des japanischen Autors Haruki Murakami, funktioniert nach dem Prinzip eines Episodenfilms. Zu Anfang jeden Kapitels stehen kurze Regieanweisungen und man merkt dem Buch an, dass sein Autor eine Vorliebe für die glitzernde Pop- und TV-Welt hegt. Hinter deren Oberfläche sucht er den tieferen Sinn.
Mari flüchtet aus der tristen Wohnung ihrer Eltern in ein Fast-Food-Restaurant im Vergnügungsviertel von Tokio. Sie liest und wartet darauf, dass der nächste Tag anbricht. Doch dann trifft sie den Studenten Takahashi, der auf dem Weg zur Probe mit seiner Jazzband ist, und damit beginnt eine ganze Reihe von miteinander verketteten Geschichten.
Takahashi macht Mari mit der exzentrischen Geschäftsführerin eines Stundenhotels bekannt, in dem gerade eine chinesische Prostituierte zusammengeschlagen worden ist, und während die Yakuza dem gewalttätigen Freier nachjagt, einem einfach Angestellten aus einer Computerfirma, bahnt sich zwischen den beiden jungen Leuten eine zögerliche Liebesgeschichte an.
Das alles passiert in einer einzigen Nacht, exakt zwischen 23.56 Uhr und 6:52 Uhr: "Afterdark", der mittlerweile neunte Roman des japanischen Autors Haruki Murakami, funktioniert nach dem Prinzip eines Episodenfilms (und man denkt auch gleich an die frühen Filme von Wong Kar-Wei, wie "Fallen Angels" oder "Chunking Express).
Tatsächlich hat man zunächst das Gefühl, hier eine Art Drehbuch vor sich zu haben. Immer wieder wird die Perspektive einer "schwebenden Kamera" beschworen, der Blick des Lesers "schwenkt" durch Innenräume oder "fliegt" über die Szenerie der nächtlichen Stadt, und darüber hinaus beginnt jedes Kapitel mit akribischen Regieanweisungen. "Wir befinden uns in einer Filiale der Restaurantkette Denny's", heißt es an einer Stelle:
"Die Beleuchtung ist langweilig, aber ausreichend hell, Interieur und Geschirr sind von neutralem Geschmack."
Was auf den ersten Blick wie ein billiger Erzähltrick wirkt, ist eine konsequente Fortsetzung des literarischen Programms, an dem der Autor seit dem Erscheinen seines ersten Roman "Wilde Schafsjagd" in den frühen Achtzigerjahren äußerst erfolgreich arbeitet.
Murakami schreibt lakonische und grammatisch sparsam konstruierte Prosa, und für einen japanischen Leser klingen seine abgerüsteten Sätze so, als ob sie direkt aus dem amerikanischen Englisch übersetzt worden seien: "translation Japanese" nennt sich dieser Stil, den Murami in der Auseinandersetzung mit seinen großen Vorbildern F. Scott Fitzgerald, Raymond Chandler und Raymond Carver entwickelt hat.
Für den deutschen Leser ist das natürlich nur schwer nachzuvollziehen. Man bekommt aber zumindest eine Ahnung vom Klang dieses literarischen Idioms, wenn man zum Beispiel weiß, dass die Stundenhotels, die auch in Murakamis neuem Roman eine Rolle spielen, in Japan "Love-Hos" heißen - oder dass "Afterdark" im Original "Afutadaku" heißt.
Mit seinem neuen, vor allem formal interessanten Roman ist Murakami noch einen Schritt weitergegangen. Er gleicht nicht nur seine japanischen Sätze an das "coole" amerikanische Englisch der Nachkriegszeit und damit an die internationale Sprache der Popkultur an, sondern imitiert mit seinen literarischen Kamerafahrten und Regieanweisungen jetzt auch den Blick des globalen Leitmediums "Film" bzw. "Fernsehen".
Willkommen im Reich der flackernden Zeichen: MTV, CNN und Warner Bros. haben nicht nur die Welt, sondern auch die Literatur erobert, und der mit seinen 56 Jahren schon nicht mehr ganz so junge Haruki Murakami gehört zu den wenigen Schriftstellern, die dieser feindlichen Übernahme literarisch wirklich etwas abgewinnen können.
Damit ist er ganz auf der Höhe der Zeit. Wenn Eri, die schöne Schwester von Mari, in "Afterdark" in einen scheinbar endlosen Dornröschenschlaf fällt und im Traum durch die spiegelnde Oberfläche eines Fernsehers in ein märchenhaftes Land der Stille und des Stillstands hinüberwechselt, dann ist das ein einprägsames Bild für eine tiefe, ganz und gar gegenwärtige Sehnsucht: dass hinter all den glitzernden Oberflächen der Popkultur vielleicht doch ein tieferer Sinn verborgen liegt.
Das ist natürlich eine schöne Illusion, aber keiner schreibt schöner darüber als Haruki Murakami.
Haruki Murakami: Afterdark
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
DuMont, Köln 2005
237 Seiten, 19,90 Euro
Takahashi macht Mari mit der exzentrischen Geschäftsführerin eines Stundenhotels bekannt, in dem gerade eine chinesische Prostituierte zusammengeschlagen worden ist, und während die Yakuza dem gewalttätigen Freier nachjagt, einem einfach Angestellten aus einer Computerfirma, bahnt sich zwischen den beiden jungen Leuten eine zögerliche Liebesgeschichte an.
Das alles passiert in einer einzigen Nacht, exakt zwischen 23.56 Uhr und 6:52 Uhr: "Afterdark", der mittlerweile neunte Roman des japanischen Autors Haruki Murakami, funktioniert nach dem Prinzip eines Episodenfilms (und man denkt auch gleich an die frühen Filme von Wong Kar-Wei, wie "Fallen Angels" oder "Chunking Express).
Tatsächlich hat man zunächst das Gefühl, hier eine Art Drehbuch vor sich zu haben. Immer wieder wird die Perspektive einer "schwebenden Kamera" beschworen, der Blick des Lesers "schwenkt" durch Innenräume oder "fliegt" über die Szenerie der nächtlichen Stadt, und darüber hinaus beginnt jedes Kapitel mit akribischen Regieanweisungen. "Wir befinden uns in einer Filiale der Restaurantkette Denny's", heißt es an einer Stelle:
"Die Beleuchtung ist langweilig, aber ausreichend hell, Interieur und Geschirr sind von neutralem Geschmack."
Was auf den ersten Blick wie ein billiger Erzähltrick wirkt, ist eine konsequente Fortsetzung des literarischen Programms, an dem der Autor seit dem Erscheinen seines ersten Roman "Wilde Schafsjagd" in den frühen Achtzigerjahren äußerst erfolgreich arbeitet.
Murakami schreibt lakonische und grammatisch sparsam konstruierte Prosa, und für einen japanischen Leser klingen seine abgerüsteten Sätze so, als ob sie direkt aus dem amerikanischen Englisch übersetzt worden seien: "translation Japanese" nennt sich dieser Stil, den Murami in der Auseinandersetzung mit seinen großen Vorbildern F. Scott Fitzgerald, Raymond Chandler und Raymond Carver entwickelt hat.
Für den deutschen Leser ist das natürlich nur schwer nachzuvollziehen. Man bekommt aber zumindest eine Ahnung vom Klang dieses literarischen Idioms, wenn man zum Beispiel weiß, dass die Stundenhotels, die auch in Murakamis neuem Roman eine Rolle spielen, in Japan "Love-Hos" heißen - oder dass "Afterdark" im Original "Afutadaku" heißt.
Mit seinem neuen, vor allem formal interessanten Roman ist Murakami noch einen Schritt weitergegangen. Er gleicht nicht nur seine japanischen Sätze an das "coole" amerikanische Englisch der Nachkriegszeit und damit an die internationale Sprache der Popkultur an, sondern imitiert mit seinen literarischen Kamerafahrten und Regieanweisungen jetzt auch den Blick des globalen Leitmediums "Film" bzw. "Fernsehen".
Willkommen im Reich der flackernden Zeichen: MTV, CNN und Warner Bros. haben nicht nur die Welt, sondern auch die Literatur erobert, und der mit seinen 56 Jahren schon nicht mehr ganz so junge Haruki Murakami gehört zu den wenigen Schriftstellern, die dieser feindlichen Übernahme literarisch wirklich etwas abgewinnen können.
Damit ist er ganz auf der Höhe der Zeit. Wenn Eri, die schöne Schwester von Mari, in "Afterdark" in einen scheinbar endlosen Dornröschenschlaf fällt und im Traum durch die spiegelnde Oberfläche eines Fernsehers in ein märchenhaftes Land der Stille und des Stillstands hinüberwechselt, dann ist das ein einprägsames Bild für eine tiefe, ganz und gar gegenwärtige Sehnsucht: dass hinter all den glitzernden Oberflächen der Popkultur vielleicht doch ein tieferer Sinn verborgen liegt.
Das ist natürlich eine schöne Illusion, aber keiner schreibt schöner darüber als Haruki Murakami.
Haruki Murakami: Afterdark
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
DuMont, Köln 2005
237 Seiten, 19,90 Euro