Kürzlich erst sei sie wieder in Frankfurt am Main gewesen, erzählt Deniz Ohde, deren Roman "Streulicht" im Industriepark Frankfurt-Höchst spielt: "Immer wieder ist es ein komisches Gefühl. Ich bin mir da auf eine merkwürdige Art und Weise nah."
Christian Baron wollte nie unbedingt aus seiner Heimatstadt Kaiserslautern weg und er kehrt auch regelmäßig dahin zurück. "Ich hab‘ mir meine Sprache nie abtrainiert", erzählt er. "Ich rede noch immer breitestes Lauterer Pfälzisch."
Bov Bjerg wiederum ist am Rande der Schwäbischen Alb aufgewachsen, so wie der Protagonist in seinem Buch "Serpentinen".
Rückkehr ins Herkunftsmilieu
Bov Bjerg, Christian Baron und Deniz Ohde haben den sozialen Aufstieg geschafft. Sie sind die ersten Akademiker in ihren Herkunftsmilieus, die sie einst verließen. In ihren Büchern kehren die Ich-Erzähler – ein Professor, ein Journalist und eine Hochschulabsolventin – dahin zurück.
In Deniz Ohdes Debütroman "Streulicht" besucht eine namenlose Erzählerin ihren Vater. Anlass ist, dass ihre Jugendfreunde heiraten. Ihre Mutter starb, als sie ein Kind war.
Ich drücke die Türklinke herunter, das Holz des Türrahmens knackt, Rauch steht in der Küche, mein Vater sitzt auf der Bank, dreht mit freudigem Ausdruck der Erwartung den Kopf zu mir, bis er mich sieht, mit dem Rucksack auf den Schultern, der gegen die zurückspringende Tür schlägt, weil sie sich nicht ganz öffnen lässt.
Die Lebensmittel, die sich auf der Küchenzeile stapeln, die blaue Plastiktüte mit dem alten Brot, dieser Überfluss an Essen und billigen Möbeln, die niedrigen Decken, das Weiß der Wände, das sich über die Jahre gefärbt hat, die sich stapelnden Fernsehzeitungen, der PVC-Boden vor dem Herd und der Korkboden im Flur, der sich an einigen Stellen löst; all diese Dinge, die ich wiedererkenne.
Aus "Streulicht" von Deniz Ohde
Gewalt in die Dinge leiten
Das Zuhause der Erzählerin war ein streng gehütetes Geheimnis. Besuch, das sind Fremde, Eindringlinge, vor denen der Vater die Wohnungstür zweimal abschließt. Niemandem, der sich nicht vorher angekündigt hat, wird geöffnet.
In Deniz Ohdes Debütroman "Streulicht" besucht eine namenlose Erzählerin ihren Vater. © picture alliance / dpa / Arne Dedert
Die Erzählerin hat Abstand zu ihrer Herkunftswelt gewonnen. Doch nun, da sie zurückkommt, beschreibt sie mikroskopisch genau jede Einzelheit davon.
„Von der Hand in den Mund – wenn Arbeit kaum zum Leben reicht“. Unter diesem Motto werfen wir in unseren Jahresschwerpunkt 2022 einen Blick auf die gesellschaftliche Realität weit unter dem Durchschnittseinkommen. In diesem Zusammenhang präsentieren wir auch dieses ursprünglich 2021 gesendete Feature. Alle Beiträge zu unserem Jahresschwerpunkt finden Sie hier.
Ohde sagt: "Die Dinge sind für die Erzählerin schon von Anfang an ihres Lebens eigentlich überlebenswichtig, weil sie an denen ablesen kann, wie die Stimmung zu Hause ist. Und weil der Vater eben nicht mit ihr spricht, muss sie dann an den Gegenständen in der Wohnung ablesen, in welcher Phase sich der Vater gerade befindet."
Das Arbeitsleben des Vaters war vorgezeichnet. Im selben Betrieb wie schon sein Vater taucht er seit vierzig Jahren Aluminiumbleche in Laugen. Wenn der Wirt vom "Schluckspecht" anrief, wussten Mutter und Tochter, der Vater ist auf dem Heimweg versackt, hat vielleicht randaliert.
"Er leitet seine Gewalt in die Gegenstände," erzählt die Autorin: "Das wirkt so, als ob er das tut, um nicht Gewalt an der Mutter oder der Erzählerin zu üben. Und natürlich bezieht die Erzählerin diese Gewalt, auch wenn die sich gegen die Gegenstände richtet, auf sich und ist letztendlich auch eine Gewalt an ihr."
Scham als Grundgefühl der Armut
"Wenn jemand wie ich, mit meiner sozialen Herkunft, mit dieser Geschichte sich in dieser Gesellschaft Gehör verschaffen will, dann geht das nur mit absoluter Offenheit", sagt Christian Baron. Mit seinem Buch "Ein Mann seiner Klasse" hat er eine Autobiografie geschrieben und damit seine elende Herkunft wie ein Statement öffentlich gemacht.
Alle Familienmitglieder, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten, gaben ihr Einverständnis und wurden von ihm befragt. Denn auf seine eigenen Erinnerungen allein mochte er sich nicht verlassen. Christian Baron wollte die möglichst unverfälschte nackte Realität einer Familie aus der Unterschicht erzählen.
"Scham", so erzählt er, "ist ein Gefühl, das meine ganze Kindheit durchzieht. Das war mir so gar nicht bewusst. Ich hab lange Zeit gedacht, dass die Scham erst eingesetzt hat, als ich mich an die Uni begeben hab, ein neues Milieu kennengelernt hab und meine Unzulänglichkeiten zu spüren gekriegt habe. Nein, das war schon in meiner Kindheit angelegt, wie wir gelebt haben, dass wir uns abgeschottet haben, kaum von außen Menschen zu uns reinließen. Dass das ein Grundgefühl der Armut ist, das wollte ich nicht verschweigen."
Unsere Wohnung war ein Skandal. Ein versiffter Teppich überdeckte den grauen Betonboden, die Fenster waren nur einfach verglast und obendrein undicht, es gab keine Heizung, dafür Feuchtigkeitsflecken und in jedem Raum Schimmel, der meiner Lunge schweres Asthma bescherte.
Viele Jahre fiel es mir schwer, etwas oder jemand anderen für diese Zustände verantwortlich zu machen als meinen Vater: Jeden Morgen stand er um Punkt sechs Uhr unten an der Straße, stieg in den Lkw ein und fuhr zur Arbeit, so wie auch die Väter meiner Schulfreunde zur Arbeit fuhren. Warum konnten wir uns dann aber oft nicht genug zu essen kaufen, wieso durften wir so selten ins Kino und wieso fuhren wir nie, nie, nie in den Urlaub?
Aus: „Ein Mann seiner Klasse“ von Christian Baron
Enthemmte Gewalttätigkeit
Christian Barons Vater starb mit 43 Jahren an multiplem Organversagen. Er war schwerer Alkoholiker. Den Unterhalt für die sechsköpfige Familie verdiente er als Möbelpacker. Sein Stolz verbot ihm, ergänzende Sozialhilfe zu beantragen, die der Familie zugestanden hätte, nicht aber, gegen Frau und Kinder gewalttätig zu sein. Seine Grobheit kannte keine Grenzen, machte vor nichts und niemandem halt.
Der Schriftsteller Christian Baron hat mit seiner Biografie "Ein Mann seiner Klasse" seine elende Herkunft wie ein Statement öffentlich gemacht.© picture alliance / Markus Scholz
Christian Baron sagt: "Bei meinen eigenen Gewalterfahrungen, die sich gegen meinen Körper gerichtet haben, bin ich in der Lage, meinem Vater zu verzeihen. Das ist für mich ein wahnsinnig überraschender Effekt der letzten Jahre gewesen. Auch des Schreibens an diesem Buch, dass mir das möglich ist. Aber bei meiner Mutter ist das nicht der Fall. Am schmerzhaftesten ist dieses Wissen darum, als Kind nicht eingegriffen haben zu können. Ich war gar nicht stark genug dafür, und sich das trotzdem nicht verzeihen zu können, das ist ein großes Dilemma, mit dem ich bislang nur schwer klarkomme und auch die stärkste Erinnerung."
Durch Härte geprägt
"Was die 1960er Jahre angeht, spielt sicher eine große Rolle, dass die Mütter und Väter in dieser Zeit in der direkten Nachkriegszeit aufgewachsen sind," sagt Bov Bjerg, der ein Kind dieser Elterngeneration ist. "Der Vater in "Serpentinen" ist Jahrgang ‘28, der hat seine komplette Schulzeit zwischen ‘33 und ‘45 verbracht und ist geprägt entsprechend durch diese Ideologie auch der Härte, die wie selbstverständlich dann auch in die Kindererziehung eingeflossen ist."
Der Ich-Erzähler ist selbst Vater geworden, bereist mit dem siebenjährigen Sohn seine alte Heimatregion. Beim Fahren der Serpentinen auf der Alb kommen Erinnerungen zurück: an den zerbrochenen Kochlöffel, den Teppichklopfer im Besenschrank, das Gipserseil, das dicke Kupferkabel. Der Schmerz ist aus seinem Gedächtnis verschwunden, geblieben sind die Instrumente.
Wut außer Kontrolle
Bov Bjerg sagt: "Diese Eltern, wenn sie außer sich vor Wut waren, haben sich nicht mehr unbedingt kontrolliert. Es war nicht dieses: "Hose runter, du kriegst jetzt fünf Hiebe mit dem Rohrstock!", sondern es war: Ich kann jetzt richtig die Sau rauslassen, meine Wut rauslassen. Da geht es nicht mehr um Ohrfeigen oder solche Sachen, sondern es geht einfach um wüste Prügel."
Der Schriftsteller Bov Bjerg ist am Rande der Schwäbischen Alb aufgewachsen, so wie der Protagonist in seinem Buch "Serpentinen".© picture alliance / Frank May
In der Familie des Ich-Erzählers hatte der gewaltsame Tod schon immer eine drohende Präsenz. Bereits drei Generationen brachten einen Selbstmörder hervor. Immer waren es die Männer, die sich das Leben nahmen. Das Gipserseil, an dem sich der Vater des Erzählers erhängte, wurde danach nicht weggeworfen, sondern schwäbisch-sparsam wieder an seinem alten Platz verwahrt.
Der Erzähler hatte als Kind den Erhängten aufgefunden. Er hat Angst, dass es bei ihm in die gleiche Richtung gehen könnte.
Zeitlebens ein Parvenü
Der lebensmüde Vater in Bov Bjergs Roman ist von Beruf Soziologe. Den Dialekt hat er abgelegt, spricht auch mit Schwaben nur noch Hochdeutsch. Er hat einen Professorentitel, ist Autor eines Standardwerks und Wissenschaftspreisträger. All das hat nichts daran geändert, dass er sich nie ebenbürtig fühlen wird in der Klasse der alteingesessenen Bildungsbürger. Er ist ein Parvenü und wird es immer bleiben. Als Gast auf einer Party, wo Akademiker unter sich sind, fängt er an, sich zu betrinken.
Er sagte: "Darf ich Ihnen ein Glas bringen?" Ich sagte: "Nein danke, nicht nötig." Er sagte: "Ich bringe Ihnen ein Glas." Ich sagte, er solle sein Scheißglas behalten. Ich fragte ihn, ob er mir vielleicht sagen könne, warum die Leute hier ihr Scheißbier vor mir versteckt und mich gezwungen hatten, statt des Scheißbiers den Scheißwein zu trinken.
Ich rief es in den Raum. Die Art, wie der Jurist sich jetzt peinlich berührt zeigte, das mit Berechnung angeschaltete Lächeln, die deeskalierenden Zahnreihen, der besorgte Blick über der beruhigend gesenkten Stimme, das alles brachte mich erste Recht auf die Palme.
Aus: "Serpentinen" von Bov Bjerg
Die Szene habe ihm großen Spaß gemacht zu schreiben, erzählt Bjerg: "Das Allerschönste ist, bei zwei Lesungen sind hinterher Leute zu mir gekommen – der eine war selber Jurist und der andere war Partner von einer Juristin – und die haben vor allem diese Szene so hervorgehoben, dass es genau so sei. Und das fand ich schon sehr lustig, weil ich habe es natürlich als Karikatur geschrieben."
Sprecher*innen: Eva Meckbach, Nina West, Tonio Arango
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Thomas Monnerjahn
Redaktion: Dorothea Westphal
Die Ursendung wurde am 22. Januar 2021 ausgestrahlt.