"Osterspaziergang" von Johann Wolfgang von Goethe
(aus: "Faust 1")
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
durch des Frühlings holden, belebenden Blick.
Im Tale grünet Hoffnungsglück.
Der alte Winter in seiner Schwäche
zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
ohnmächtige Schauer körnigen Eises
in Streifen über die grünende Flur.
Aber die Sonne duldet kein Weisses.
Überall regt sich Bildung und Streben,
alles will sie mit Farbe beleben.
Doch an Blumen fehlts im Revier.
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
nach der Stadt zurückzusehen!
Aus dem hohlen, finstern Tor
dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
denn sie sind selber auferstanden.
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
aus der Strassen quetschender Enge,
aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh, wie behend sich die Menge
durch die Gärten und Felder zerschlägt,
wie der Fluss in Breit und Länge
so manchen lustigen Nachen bewegt,
und, bis zum Sinken überladen,
entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges ferner Pfaden
blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel.
Hier ist des Volkes wahrer Himmel.
Zufrieden jauchzet gross und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!
Das Verlangen nach Weltliteratur in der eigenen Sprache
08:10 Minuten
Jiddisch, die Umgangssprache des längst untergegangenen Ost-Judentums, gesprochen im Shtetl bei Klezmer. So das Klischee bis heute. Es war aber ganz anders. Denn Übersetzungen deutscher Klassiker und der Weltliteratur ins Jiddische boomten.
"Ich bin vor einigen Jahren durch Zufall drauf gestoßen, als ich in der Nationalbibliothek ein wenig gestöbert habe in der Judaica-Sammlung. Und da finde ich wahrhaftig eine Übersetzung von Thomas Manns "Zauberberg". Eine Übersetzung ins Jiddische Anfang der 1930er Jahre." Übersetzt von keinem Geringeren als dem späteren Nobelpreisträger für Literatur Isaac Bashevis Singer.
Ein Zufallsfund in der Nationalbibliothek von Vilnius? Die Projektleiterin am Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam, Elke-Vera Kotowski, hat schon jetzt über 200 Titel gefunden. Kinder- und Jugendliteratur, die Märchen der Gebrüder Grimm etwa. Max und Moritz wurden jiddisch zu Notl un Motl. In deutschen Bibliotheken finden sich heute so gut wie keine jiddischen Übersetzungen. Die Nazis hatten alles aussortiert und vernichtet.
In Osteuropa sieht das anders aus. Marx, Engels und weitere sozialistische Literatur; oder Lion Feuchtwanger; und einer der ersten Anti-Kriegs-Romane.
"Wirklich der Bestseller jener Zeit von Erich Maria Remarque, "Im Westen nichts Neues". Wichtige Standorte von jiddischen Verlagen waren Vilnius, Warschau, Kiew, Odessa und eben auch Moskau."
Für Elke-Vera Kotowski eine Kulturentdeckung, mehr als das Klischee von Klezmer und gefillte Fisch, Kaftan und Schläfenlocken. Die jiddischen Sprecher wandten sich ab etwa 1900 der Hochliteratur zu.
"Mit der wachsenden Identitätsfrage, mit dem wachsenden Selbstbewusstsein auch dieses Jiddischseins hat man sich auf die eigene Sprache berufen. Auch Autoren schrieben auf Jiddisch, Scholem Alejchem beispielsweise, ein wichtiger Vertreter der jiddischen Literatur. Bis heute herrscht ein merkwürdiges Bild auf das sogenannte osteuropäische Judentum. Es ist eben nicht diese Shtetl-Mentalität, diese Shtetl-Kultur. Die Menschen wollten auch an der Weltliteratur partizipieren, aber in ihrer eigenen Sprache. 1936 erschien von Heinrich Heine "Deutschland - ein Wintermärchen" auf Jiddisch, und die Startauflage war 6000 Exemplare, und das fand ich wirklich bemerkenswert."
Bildung für alle
"Gerade auch für die Arbeiterschaft, es gab ja die Bundisten, die gewerkschaftsnah waren oder Gewerkschaften gegründet haben. Für sie war es wichtig, dass die Arbeiterschaft auch Bildung erhielt. Man wollte weg von den ausschließlich religiösen Texten. Man wollte auch Belletristik lesen. Ich habe von Goethe auch den 'Erlkönig' gefunden."
"Erlkönig" von Johann Wolfgang von Goethe
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? —
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? —
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. —
Selbst in Berlin wurde jiddisch gedruckt. Spätestens nach 1933 gingen viele jüdische Verlage aber nach Übersee. "Da war New York einer der Hochburgen. Isaac Bashevis Singer, ein wirklich berühmter Schriftsteller, der eben auch die jiddische Kultur einst in Ost-Europa, aber dann eben auch in Brooklyn in seinen Texten widerspiegelt", sagt Elke-Vera Kotowski. Berlin war eine Zwischenstation und man zog weiter nach New York, wo diese Kultur bis heute Bestand hat."
Jiddisch in der ganzen Welt
Oder in Massachusetts das Yiddish Book Center, das dank Steven Spielbergs Unterstützung alles Jiddische von früher digitalisiert. Denn die vielen jiddischen Verlage von einst gibt es heute nicht mehr. Und das Jiddische selbst? Elke-Vera Kotowski sieht schon so etwas wie eine Wiederentdeckung der ostjüdische Umgangssprache.
"Seit 20 Jahren gibt es in Weimar den Yiddish Summer, wo Wissenschaftler und Musiker aus der ganzen Welt zusammenkommen, um jiddische Musik, jiddische Literatur, jiddisches Theater weiter zu pflegen. In Argentinien gibt es auch einen Ableger des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts. Der dortige Leiter fährt jedes Jahr nach Wilna und gibt dort Jiddisch-Kurse und es kommen auch Studierende aus der ganzen Welt dahin, ob aus Japan, aus Polen, aus Südamerika. Junge Leute, die jiddisch lernen wollen."
Ausstellung "Jiddische Übersetzungen deutschsprachiger Klassiker in der Zwischenkriegszeit"
Rathaus Charlottenburg, 3. Etage
Otto-Suhr-Allee 100
10585 Berlin