Sina Kamala Kaufmann: "Helle Materie"
Mikrotext-Verlag, Berlin 2019
176 Seiten, 14,99 Euro, E-Book 6,99 Euro
Wenn Reiche sich lebendige Spielfiguren halten
09:37 Minuten
Reiche, die andere Menschen via Handy steuern oder Facebook als gemeinnützige Einrichtung: Sina Kamala Kaufmann entwirft in "Helle Materie" verblüffende Gedankenspiele zu einer möglichen nahen Zukunft. Ganz nebenbei begründete sie damit auch ein neues Genre.
Die Welt verändert sich mit der Digitalisierung dramatisch und wird das auch weiterhin tun. Die Berliner Autorin Sina Kamala Kaufmann dekliniert in ihrem ersten Erzählungsband durch, wie die Zukunft in wenigen Jahren aussehen könnte. Und sie tut das lakonisch, hyperrealistisch und grotesk zugleich. "Helle Materie" heißt ihr Debüt, der Untertitel lautet: "Nahphantastische Erzählungen" - ein völlig neues Genre. Gemeint sei damit "eine fantastische Nähe zur Realität", erklärte Kaufmann im Deutschlandfunk Kultur.
Das Buch enthält kleine verblüffende Skizzen oder Gedankenspiele - auch nach dem Motto: Was wäre gewesen, wenn? Zum Beispiel wenn sich Facebook-Chef Mark Zuckerberg und Microsoft-Chef Bill Gates 2006 getroffen hätten, um einen völlig neuen Kurs zu vereinbaren, bei dem Facebook quasi gemeinnützig wird.
Wenn Facebook "weltverstaatlicht" wird
In dieser Erzählung schauten "ein alter, weiser Bill Gates" und Mark Zuckerberg, wie Zuckerbergs Innovationen wirklich gewinnbringend eingesetzt werden können, so Kaufmann. "In dem Fall ist es so, dass Facebook tatsächlich in gewisser Form fusioniert wird mit den Vereinten Nationen und dort dann ganz, ganz neue Anwendungen oder eine ganz andere soziale Infrastruktur entsteht." In Kaufmanns Text heißt das "weltverstaatlicht", das heißt Facebook hilft tatsächlich mit, die Welt zu demokratisieren und zu einem gerechteren Ort zu machen.
In einer anderen Geschichte geht es um ein Spiel, das die Reichen dieser Welt gegeneinander spielen. Junge Menschen sind darin die Spielfiguren, die per Handy gesteuert werden. Eine junge Frau etwa führt mit ihrem Chef in einem Café Jobverhandlungen. Dabei bekommt sie von ihrem "Besitzer" aus Japan, den sie noch nie gesehen hat, ständig Regieanweisungen aufs Handy, damit sie das Gespräch taktisch erfolgreich führt.
In Kaufmanns Geschichten rennen die Menschen zu Anti-Prokrastinations-Zirkeln, zu Rebirthing-Fachleuten und machen Urschlamm-Kuren, um sich selbst zu verbessern, zu optimieren. Glücklicher scheinen sie dabei aber nicht zu werden.
Es geht um Gemeinschaft
"Warum müssen wir denn immer glücklicher werden?", fragt Kaufmann. Das sei vielleicht ein Antrieb der unter Umständen auch ein wenig blind macht für andere Aspekte. "Ich glaube, es geht viel um Gemeinschaft und wie Gemeinschaft möglich ist." Es gehe auch darum, "wie ist man in dieser Welt denn zusammen glücklich und was sind Formen, wie wir da Wege finden können." Ihre Geschichten seien "kleine Versuchsaufbauten und Experimente: Wie könnte das denn aussehen?".
Kaufmann ist Jahrgang 1985 und lebt in Berlin. Sie hat Philosophie, Politik und öffentliches Recht studiert sowie eine Tanzausbildung gemacht. Außerdem hat sie eine Zeitlang sozusagen als Baum gelebt. Das sei ein Experiment gewesen, um sich gegen den Klimawandel zu engagieren, erzählt sie. "Ich habe mich eine Woche lang von einem Künstler grün anmalen lassen, nicht gegessen, nicht gesprochen und Baumsamen verteilt." Ihre Aktion habe viele Leute berührt, das habe sie aber erst viele Jahre später erfahren, sagt Kaufmann.
(abr)