Didier Eribon: "Rückkehr nach Reims"
Übersetzt von Tobias Haberkorn
Suhrkamp, Berlin 2016, 240 Seiten, 18 Euro
Didier Eribon: "Rückkehr nach Reims"
Während der Adventszeit empfehlen unsere Kollegen täglich ein Buch. Für Literaturkritiker René Aguigah sind die Lebenserinnerungen des französischen Intellektuellen Didier Eribon das Buch des Jahres.
Die Lebenserinnerungen eines französischen Intellektuellen – ein Bestseller mit sechsstelligen Verkaufszahlen? Ein Autor, den bis vor kurzem nur Geisteswissenschaftler kannten – und plötzlich erwartet alle Welt von ihm Erklärungen für die politische Lage nach Brexit und Trump-Wahl?
Genau das widerfährt Didier Eribon, seit sein Buch "Rückkehr nach Reims" im Sommer auf Deutsch erschienen ist. Er erzählt, wie er seine Mutter das erste Mal seit Jahrzehnten wieder sieht; warum er mit dem Milieu seiner Herkunft, der Arbeiterklasse in der Provinz, so vollständig gebrochen hat; wie er einen homosexuellen Pariser Intellektuellen aus sich selbst geformt hat; er erzählt von den sozialen Bedingungen dieser Ich-Werdung; von Arbeiterfamilien, die einst geschlossen die Kommunistische Partei wählten, während sie heute den Bodensatz für die Erfolge des rechtsextremen Front National bilden.
Er erzählt, indem er all diese Fäden zu einem faszinierenden Strang verwebt. Es stimmt, was so viele sagen: Buch des Jahres.
Passend hierzu unsere Buchkritik vom 26. September 2016:
Soziologe Didier EribonWie ein Land nach rechts rutscht
Von Dirk Fuhrig
Anhänger von Front-National-Chefin Marine Le Pen: Der Soziologe Didier Eribon beschreibt in seinem Buch wie einst linke Arbeiter politisch nach rechts gerückt sind. (imago/PanoramiC)
In seiner Autobiografie "Rückkehr nach Reims" beschäftigt sich der französische Soziologe Didier Eribon mit den Wurzeln seiner proletarischen Herkunft. Das Buch zeigt die Zerrissenheit der Gesellschaft - nicht nur in Frankreich.
In seiner Autobiografie "Rückkehr nach Reims" beschäftigt sich der französische Soziologe Didier Eribon mit den Wurzeln seiner proletarischen Herkunft. Das Buch zeigt die Zerrissenheit der Gesellschaft - nicht nur in Frankreich.
Wer Didier Eribon live erleben will, muss sich anstellen. Vor der "Autorenbuchhandlung" warten junge Leute auf Restkarten. Die meisten vergeblich.
Drinnen versinkt der 63 Jahre alte Soziologe in einem braunen Ledersessel und blickt etwas verloren durch seine schwarzumrandete Brille. Er ist selbst überrascht, dass seine "Rückkehr nach Reims" in Deutschland so viel Wind macht.
"Als ich es schrieb, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass mein Buch etwas über die politische Situation in Deutschland aussagen könnte. Aber heute scheint es so, dass darin bestimmte Entwicklungen in europäischen Ländern beschrieben sind - fürchterliche Entwicklungen leider."
Eribon schildert, wie die einst kommunistisch oder zumindest "links" wählenden Arbeiter zu Anhängern des Front National geworden sind. Obwohl schon 2009 in Frankreich erschienen und sofort ein Bestseller, wurde "Rückkehr nach Reims" erst jetzt ins Deutsche übersetzt. Seit Mai mussten bereits sechs Auflagen nachgedruckt werden.
"Es ist eines dieser Bücher, wo Leute sagen: Hey guck mal, kauf das mal, lies das mal. Leute unterhalten sich und jemand sagt: Genau, lies mal das Buch von dem Eribon. Ein Buch, das ein paar Nerven getroffen hat, Seiten angeschlagen hat, die viele Leute gerade beschäftigen."
Sagt "Spiegel"-Journalist Tobias Rapp, der die Veranstaltung moderiert.
Parallelen zur AfD
Wer in Deutschland das Buch liest, denkt unwillkürlich an den Aufstieg der AfD. "Rückkehr nach Reims" handelt davon, wie ein Milieu ein wütendes Ressentiment gegen alles entwickelt, was "anders" ist: Fremde, Homosexuelle, "das System", "die da oben" in Paris - Brüssel, Berlin. Die sich von den "Eliten" abgehängt, von den linken Parteien verraten fühlen - und daher nach rechts schwenken, immer nationalistischer auftreten und Europa ablehnen.
"Das Buch ist sowohl eine persönliche Spurensuche, als auch eine kollektive Autobiografie Frankreichs und seines Klassensystems. Es stellt die Frage, wo sich die Linke in unserer Gesellschaft heute befindet."
Der Schüler von Pierre Bourdieu und gefeierte Biograf von Michel Foucault zählt in Frankreich zu den prominenten Intellektuellen. Er ist regelmäßig in Presse und Rundfunk präsent. Als Spezialist für Gender- und soziale Fragen ist er in Berkley ebenso begehrt wie in Buenos Aires - und Berlin.
Er schreibt sehr eindringliche, verständliche, persönliche Sätze. "Rückkehr nach Reims" hat er nach dem Tod seines Vater begonnen, mit dem er 30 Jahre keinen Kontakt gehabt hatte. Eribon stellte sich die Frage, warum er mit seiner Familie gebrochen hatte. Und fand die Antwort - vor allem - in der Spaltung der Gesellschaft.
Vom Proletarier zum kultivierten Intellektuellen
"Als ich in diesem Milieu der Kultur und Bildung in Paris ankam, war es sehr schwer, zu meiner Herkunft zu stehen. Dort stammt man vielleicht nicht unbedingt aus dem höchsten Bürgertum, aber die Welt der Arbeiter kennt keiner. Um dazuzugehören, musste ich den Geruch des Proletariers, der an meiner Haut klebte, abwaschen. Ich musste meine Art zu sprechen ändern und mich zu einem kultivierten Intellektuellen umformen. Gleichzeitig dachte ich, ich könnte als Schwuler nur unbehelligt leben, wenn ich mich von dem homophoben Milieu, aus dem ich komme, ablöse. All das betrachte ich heute als eine gesellschaftliche Gewalt, die gegen mich ausgeübt wurde."
"Meiner Meinung nach macht dieses Buch so wichtig, dass es vom Biografischen ausgeht: Das eigene Leben als Fallbeispiel zu nehmen für die Gesellschaft, die aburteilt, ....das kann jemand sein, der schwul ist, aber auch jemand der aus Afrika komm. Man selbst fängt an sich zu fragen, wo liegen meine eigenen Grenzen."
Sagt Marc Iven von der Autorenbuchhandlung.
Es ist kein Zufall, dass bei der Lesung in der ersten Reihe ein schmaler, junger Mann zu entdecken ist, der ständig Fotos mit seinem Telefon macht. Es ist Geoffroy de Lagasnerie, der ebenso zum denkerischen Umfeld Didier Eribons zählt wie im Übrigen auch Édouard Louis, der in seinem überaus erfolgreichen Roman "Das Ende von Eddy" in gewisser Weise die "Rückkehr nach Reims" aus der Sicht eines heute Anfang 20-jährigen weitergeschrieben hat.