Mihkel Mutt: "Das Höhlenvolk: Lebensbilder aus der estnischen Gesellschaftschronik"
Kommode, Zürich 2017
440 Seiten, 24,90 Euro
Mihkel Mutt: "Das Höhlenvolk"
Mihkel Mutt beschreibt in "Das Höhlenvolk" das Leben von estnischen Kulturschaffenden und Widerstandskämpfern zu Sowjetzeiten. Dabei wird sichtbar, welche hohe Relevanz die Literatur damals hatte. Sie kam gleich nach dem Kampf für die Freiheit.
Dieses Jahr verschenke ich "Das Höhlenvolk" von Mihkel Mutt. Mutt ist einer der bekanntesten Schriftsteller in Estland. Er hat mehr als 30 Bücher geschrieben. Dieser Roman ist der erste, der ins Deutsche übersetzt wurde. Er schildert das Leben von estnischen Kulturschaffenden, Bohemiens und Widerstandskämpfern zu Sowjetzeiten, während der Revolution und in den Jahren danach.
Diese Gesellschaftschronik spielt in der "Höhle", einem Künstler-Club in Tallinn, in den die intellektuelle Elite geflohen war, wo sie durchfeierte und diskutierte. Den Club gibt es noch immer, aber seine besten Zeiten hat er hinter sich: Genau wie seine Besucher.
Durch diesen Roman habe ich begriffen, welche herausragende Rolle Kultur, vor allem Literatur, zu Sowjetzeiten hatte - und das sicherlich nicht nur in Estland. Sie kam, so hat es Mutt in einem Interview gesagt, gleich nach dem Kampf für die Freiheit. Sie war eine Quasi-Religion, und die Schriftsteller waren ihre Hohepriester.
Klatschzeitschriften statt Untergrundliteratur
Das Leben dieser Volkshelden - aber auch das der Mitläufer des Regimes - beschreibt Mutt von deren Kindheit an. Die einen, die Freiheitskämpfer, feiern Weihnachten, die anderen, die Angepassten, haben zwar einen Baum, aber mit dem Sowjetstern obendrauf. Das Erstaunliche daran ist: Auch die kritischen Künstler finden ihre Nischen, genießen hohes Ansehen und werden oft vom Staat versorgt.
Die singende Revolution im Baltikum (1987 - 1991) hätten viele fast verpasst. Die neuen Freiheiten bringen für die meisten Bedeutungsverlust, Nöte und den Niedergang. Die Menschen wollen nun statt Untergrundliteratur lieber Klatschzeitschriften lesen. Kein Wunder, dass der Erzähler des Romans mittlerweile Gesellschaftsreporter geworden ist.
Da musste ich laut lachen, weil ich mich daran erinnert habe, dass mir meine Verwandten anfangs auch die großen estnischen Schriftsteller geschenkt haben, später dann aber meist einen Stapel Klatschzeitschriften. Ich schenke das Buch einer Freundin, die mit mir zusammen als Reiseleiterin im Baltikum gearbeitet hat und die, wie ich, die Wende nicht bewusst miterlebt hat.
Ich glaube, liebe Christine, jetzt müssen wir uns beim nächsten Tallinn-Besuch doch mal die Reste der "Höhle" anschauen.