Literarischer Kanon

Weltkulturerbe oder leeres Versprechen?

57:30 Minuten
Alte Bücher stehen in der Auslage eines Antiquariats.
Wie entsteht, wie verändert sich ein literarischer Kanon? Im Antiquariat stehen weltbekannte und vergessene Bücher oft nebeneinander. © picture alliance / imageBROKER / Hartmut Schmidt
Von Katharina Teutsch |
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Seit Goethe den Begriff "Weltliteratur" einführte, muss man immer wieder neu überlegen: Wer gehört zum Club, wer darf nicht rein, wer fliegt raus? Welche Bücher werden kanonisch? Und warum?
Immer wieder wurde darüber gestritten, welches literarische Werk in den Kanon gehört. Was muss gelesen werden, welches Buch soll in den Bücherschrank, aus dem sich auch nachfolgende Generationen noch bedienen wollen?
Seit mehr als 150 Jahren werden die großen Werke der Literaturgeschichte gesammelt und für die Nachwelt in einem Kanon festgehalten. Manchmal sind es verdiente Literaturwissenschaftler, die diesen Kanon aufstellen, manchmal findige Verleger, die ihn behaupten. So kennen wir die literarischen Heroen der Antike und auch manch einen Stürmer und Dränger, der sich noch zu Lebzeiten zum Vertreter der Weimarer Klassik verwandelte.
Doch wie verhält es sich mit den literarischen Werken uns fremder Kulturen? Über Nationalitätsgrenzen hinweg werden zwar Dante, Shakespeare und Goethe verehrt. Und im vergangenen Jahrhundert eroberten sich Kafka, Musil und Joyce den Ruf, moderne Klassiker zu sein. Aber was bleibt tatsächlich, wenn die Welt sich ändert, die Erfahrungen und der Blick der Menschen?
Wer vermag uns am Ende mehr zu sagen, Gryphius oder Jelinek, Murakami oder Morrison, Proust oder Baldwin? Haben diejenigen, die einen Kanon präsentieren, auch Literaturen aus Afrika oder Asien im Blick? Können sie überhaupt schon ein Empfinden für das haben, was vielleicht erst in der Zukunft sich als bedeutsam erweisen wird?
Prominente Büchermenschen geben Auskunft über ihre Erfahrungen mit dem Kanon – und wie sie daran mitwirken. Klar wird: nicht alles was massenhaft gelesen wird, taugt für den Kanon. Und selbst ein Nobelpreis ist keine Garantie für das Überleben eines Werkes im Olymp der Literatur.
(huk)


– "Ich liebe Dich, mich reizt deine Gestalt und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!"
– "Die besseren Damen gewinnt man nur, durch Beherrschung der Literatur, du wirst Eindruck schinden..."
– "Er stand auf seines Daches Zinnen und blickte mit vergnügten Sinnen auf das beherrschte Samos hin ..."
– "Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte. Süße wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land"
– "Er erreicht den Hof mit Müh und Not. In seinen Armen, das Kind war tot."
Seit mehr als 150 Jahren werden die großen Werke der Literaturgeschichte von den Gralshütern der literarischen Überlieferung gesammelt und für die Nachwelt in einem Kanon festgehalten. Mit einigem Erfolg. Denn die literarischen Heroen der Antike sind unvergesslich! Ebenso die der Weimarer Klassik: Wieland, Goethe, Schiller. Oder jene noch älteren Autoren, die durch die Generation Goethes und Schillers überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangten: Dante, Petrarca, Cervantes oder Shakespeare. Dann die damals verkannten Autoren der heute Klassik genannten Epoche, die inzwischen selbst Klassiker sind: Heinrich von Kleist. Oder der Vormärzautor Georg Büchner. Und natürlich die sogenannten Modernen Klassiker, die Autoren des 20. Jahrhunderts: Kafka, Musil, Joyce.
Doch wer sagt eigentlich, dass das immer so bleibt?
"Klassisch heißt ja in erster Linie einmal, dass ein Autor eine Vorbildfunktion hat, für eine bestimmte Tradition steht oder eine Wirkung eben oder eine besondere Qualität hat, um das vielleicht mal ganz knapp zu fassen", sagt der Literaturhistoriker Peter Goßens.
"In der Mitte des 18. Jahrhunderts setzt man sich auf einmal damit auseinander: Sind das eigentlich nur noch die antiken Autoren, also wie Cicero, Tacitus, Horaz, die zum Vorbild für unsere jetzige, also damals gegenwärtige Literaturproduktion dienen können? Oder schaffen wir selber auch moderne und innovative Werke, die selber dann Vorbildfunktion für andere Autoren haben können? Das sind dann die modernen Autoren. Also da bricht auf einmal diese Vorstellung von Klassik als 'Das sind die alten Autoren der Antike, die unser Vorbild sind' auseinander. Und es entwickelt sich so etwas wie ein modernes Kulturbewusstsein.
Vor 1770 weiß man sehr wenig über fremde Literaturen, fremde Länder. Das waren einfach fremde Länder, die auch irgendwelche bedeutenden Autoren hervorgebracht haben, und ab der Mitte des 18. Jahrhunderts setzt man sich auch ganz konkret mit diesen 'modernen' Autoren der anderen Länder auseinander. Eben durch Übersetzungen und durch Nachdrucke dieser Ausgaben."
Shakespeare ist eines der frühesten deutschen Importwunder der Literaturgeschichte. Von Wieland zunächst in Prosa ins Deutsche übertragen, später von den Romantikern Schlegel und Tieck in metrischer Form kanonisiert. Die Ausgaben sind bis heute gültig. Also: klassisch.
Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage:
Ob’s edler im Gemüt, die Pfeil’ und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden, oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden. Sterben – schlafen –
Nichts weiter! – und zu wissen, dass ein Schlaf
Das Herzweh und die tausend Stöße endet,
Die unsers Fleisches Erbteil – ’s ist ein Ziel
Aufs innigste zu wünschen. Sterben – schlafen –
Schlafen! Vielleicht auch träumen!
"Shakespeare wird bis 1830 zu einem der wichtigsten Autoren auch in Deutschland", sagt Peter Goßens. "Er wird quasi auch immer mehr zum deutschen Autor, wird quasi in Anspruch genommen auch für die Entwicklung einer deutschen Kultur. Er ist dann nicht mehr der unbekannte Volksautor, sondern einer der großen Klassiker der Weltliteratur neben anderen wie Dante und Petrarca und solchen Autoren, die in dieser Zeit dann zunehmend übersetzt werden."
Zur regen Übersetzertätigkeit in Deutschland gesellt sich ein Modell von "großer" Literatur, dem Goethe in seinen Gesprächen mit Eckermann einen Namen gibt: "Weltliteratur". Goethe schwebt dabei eine bestimmte Art von kritischer Zeitgenossenschaft vor – unter ständiger Einbeziehung der literarischen Tradition. Eckermann überliefert:
"Ich sehe mich daher gern bei fremden Nationen um und rathe jedem, es auch seinerseits zu thun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen."
Peter Goßens: "Also, was passiert in unserer Zeit und wie können wir diese Neuerungen, die da passieren, das sind ziemlich viele – in dieser Zeit wird die Eisenbahn zum Beispiel erfunden bzw. zum ersten Mal auch auf die Strecke gesetzt, solche Dinge von Kommunikation und Fortbewegung, die sich erheblich verändern –, wie können wir also diese modernen Konzepte und Ideen mit dem verbinden, was wir eigentlich schon immer kennen? Also mit der Tradition unseres Kulturbewusstseins. Der Begriff, den Goethe schafft, der sagt: Das ist das Heutige, wir müssen das Moderne mit dem Alten verbinden und das nenne ich jetzt als Kommunikationskonzept Weltliteratur.

Erste These: Der Klassiker ist eine Brücke zwischen den Kulturen und den Epochen

Peter Goßens: "Ich sag' mal ein Stichwort, das sicherlich interessant ist. Das ist der 9. November 1867. Das ist der 9. November im so genannten Klassikerjahr, in dem die Rechte an allen klassischen Autoren, die vor 1837 gestorben sind, frei werden und so Verlage wie Reclam einfach Zugriff auf diese Autoren haben und diese klassischen Autoren unheimlich populär machen. Auf einmal kann jeder die lesen, die werden zum Schulstoff und so weiter. Noch heute ist ja die Nummer Eins der Reclam-Universalbibliothek immer noch Goethes 'Faust' und das ist ja der Klassiker schlechthin der deutschen Literatur. Diese klassischen Autoren werden auf einmal immer bekannter und zum Normbild einer Vorstellung 'Das ist gute Literatur' an Schulen, an Universitäten und anderswo."
Und weil jede Regel ihre Ausnahme, jede Norm ihre Überschreitung mit sich bringt, finden sich bald provokante Dichter, die gegen die Norm rebellieren. Doch es ist keine Rebellion aus purer Lust an der Rebellion. Es sind die neuen Erfahrungen der neuen Menschen, einer Epoche, die wir als Moderne beschreiben. Paris zum Beispiel verwandelt sich Mitte des 19. Jahrhunderts in eine Großbaustelle voller Lärm, Armut und Elend. Auf der anderen Seite des Spektrums finden sich der unermessliche Reichtum der herrschenden Klasse und der Glamour der neu entstehenden Großbourgeoisie.
Charles Baudelaire gilt als erster Lyriker, der Themen des Großstadtlebens wie Prostitution, Armut oder Krankheit – also hässliche Dinge – in klassische Versmaße fasste, der seine Dichtkunst nicht mehr nur den antiken Idealen folgen lässt, sondern auch den Erfahrungen der modernen Großstadt.
"Die Modernität, das ist das Vorübergehende, das Flüchtige, das Zufällige, die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist. [...] Dieses transitorische, flüchtige Element darf man nicht übergehen oder verachten. Wenn Sie es unterdrücken, fallen Sie zwangsläufig in die Leere einer abstrakten, unbestimmten Schönheit zurück."
(Baudelaire, "Der Maler des modernen Lebens", 1863)
Peter Goßens: "Also die Ästhetik des Hässlichen zum Beispiel bei Baudelaire mit den 'Fleurs du Mal', wo dann wirklich auch eklige Dinge auf einmal in die Literatur reinkommen. Ästhetiken, die das Böse propagieren und sowas als Abwehrbewegung. Aber diese modernen, avantgardistischen Poetiken werden dann ja gleichzeitig wieder zum Vorbild für andere moderne, avantgardistische Autoren, die damit umgehen und sich weiter absetzen wollen von der normierten Vorstellung einer bildungsbürgerlichen Ästhetik, die sich dann in der Mitte des 19. Jahrhunderts quasi fest etabliert hatte."
Was, arme Muse, tut heute Morgen, ach, dir weh?
Nachtmare sind’s, die dir aus hohlen Augen schauen,
Und das, was ich auf deiner Haut sich spiegeln seh,
Sind, kalt und stumm, im Wechsel Wahn und Grauen.
(Charles Baudelaire, "Die kranke Muse", in: Les Fleurs du Mal)

Zweite These: Der Kanon gleicht der Stadt Paris unter Napoleon III. Er ist eine Dauerbaustelle

Etwa hundert Jahre nach dem Klassikerjahr 1867, als Goethe, Schiller und all die anderen von jedermann kostenlos nachgedruckt werden konnten, in der Schule gelesen, beispiellos populär, kurz: zu Klassikern wurden, setzt ein Mann Maßstäbe in der Literaturgeschichtsschreibung. Der Verleger Helmut Kindler etabliert, angeregt von einem italienischen Lexikon, ein vielbändiges Nachschlagewerk, das inzwischen selbst kanonisch ist: Kindlers Literatur Lexikon.
"Das ist der wohl umfangreichste Kanon von Weltliteratur, den es überhaupt gibt", sagt Peter Goßens. "Da gibt es jetzt mittlerweile drei Auflagen. In der ersten hatte er, glaube ich, so um die 15.000 Einträge, in der zweiten Auflage hat er 22.000 Einträge gehabt, und jetzt die neueste, wenn ich mich recht entsinne, hat jetzt ungefähr 17.000 Einträge. Also, es sind Autoren rausgefallen, aber auch neue Autoren reingekommen. Also da wird ganz kräftig an einer Kanonveränderung gearbeitet hin zu der Frage: Was macht denn einen Kanon am Anfang des 21. Jahrhunderts aus? Welche Autoren und welche Werke sind von Interesse für Leser im 21. Jahrhundert?"
Dunkelgraue dickleibige Bände eines Lexikons stehen nebeneinander
Unverzichtbares Nachschlagewerk: Die dritte Auflage von Kindlers Literatur Lexikon erschien 2009© picture alliance / Verlag J.B. Metzler
Allerdings sprengt Kindlers Literatur Lexikon die Vorstellung eines Kanons – es ist sehr umfangreich, beinahe enzyklopädisch. Damit hat es vielleicht selbst weniger den Anspruch, ein Kanon zu sein, denn eine Übersicht zur literarischen Produktion bis hinein in die jüngere Vergangenheit. Hier wird gesammelt, was Geltung hatte und noch hat. Damit enthält sich "der Kindler" eines Urteils über die tatsächlichen Verweilchancen der in ihm behandelten Autoren auf dem Parnass der Ewigen.
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Möros, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
"Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!"
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
"Die Stadt vom Tyrannen befreien!"
"Das sollst du am Kreuze bereuen."
(Aus Friedrich Schillers Gedicht "Die Bürgschaft")
"In meinem Elternhaus haben die Klassiker eine gewisse Rolle gespielt", sagt der Schriftsteller Frank Witzel. "Ich erinnere mich, dass ich, als ich so zwölf war, den Gedanken hatte, Schauspieler zu werden und meine Mutter mir gesagt hat, dann musst du alle Schiller-Balladen auswendig können und hat mir dieses Buch mit den Schiller-Balladen gegeben. Und ich hab' dann auch angefangen, den Taucher, den Handschuh, die Bürgschaft natürlich und so weiter, ich habe das dann gelesen…"
"Ich bin", spricht jener, "zu sterben bereit
Und bitte nicht um mein Leben,
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit,
Ich lasse den Freund dir als Bürgen,
Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen
"Ich habe das dann auch auswendig gelernt", berichtet Frank Witzel. "Aber das war beschränkt praktisch auf diese Idee, das auch schauspielerisch irgendwann mal umzusetzen."
Frank Witzel, Jahrgang 1955, Autor eines umfangreichen Romans über das kulturelle und politische Klima in der frühen Bundesrepublik: "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969".
"Und dann würde ich schon eher sagen, dass ich mich dann eher gegen den klassischen Kanon sehr früh positioniert habe, weil meine literarischen Interessen, die kamen ja aus dem Bereich des Beats, also jetzt dem Amerikanischen. Kerouac und Ginsberg und so weiter. Das heißt, die waren ja auch eigentlich gegen den traditionellen Kanon, in den sie jetzt aufgenommen sind, positioniert. Das wäre so mein Anfang."
Bestand um 1900 der Kanon noch hauptsächlich aus Werken der Antike und der Weimarer Klassik, hatte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg bereits die Außenseiter der klassischen Epoche sowie die Avantgarden des 20. Jahrhunderts einverleibt: Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus. Viele der von den Nationalsozialisten als "entartet" diffamierten Werke wurden nach 1945 wiederentdeckt – zum Beispiel durch die Neuauflage der expressionistischen Gedicht-Anthologie "Menschheitsdämmerung".
Wenn Frank Witzel von einem "klassischen Kanon" spricht, dann meint er jenen frühen Kanon der "Klassik" – erweitert um den Kanon der Außenseiter wie zum Beispiel Heinrich von Kleist. Hinzu kommt der Kanon der historischen Avantgarden, der Autoren der Moderne. Der Kanon erweist sich bei genauer Betrachtung also schon in der Perspektive des angehenden Schriftstellers Frank Witzel als ein pflanzenartiger Organismus, der ständig neue Triebe entwickelt und doch an der Wurzel eine gewisse Beständigkeit aufweist. Es scheint also eine subtile Dynamik, eine Gemengelage aus Kontinuität und Umbruch zu sein, die den Kanon lebendig hält.
In den 60er-Jahren, in Frank Witzels Jugend, beginnt langsam erneut etwas Neues im Kanon Fuß zu fassen: Die Literatur öffnet sich unter Kämpfen für die struppigen Gewächse der Trivialkultur.
"Früher gab's ja die Teilung zwischen E und U ganz stark", sagt Frank Witzel. "Und ich kann mich noch daran erinnern, dass ich auch selbst gesagt habe: Warum kann Science-Fiction nicht Literatur sein? Warum kann ein Krimi nicht Literatur sein? Autoren wie Heißenbüttel haben genau daran gearbeitet. Auch die Wiener Gruppe hat an solchen Sachen gearbeitet, dass man diesen ... was ja auch mit Kanon zu tun hat, dass man das auflöst. Sondern dass man sagt, es gibt qualitativ gute Science-Fiction, die sind ebenbürtig einer Literatur aus dem, sagen wir, bürgerlichen Kanon."
Sigrid Löffler: "Ich habe ein tiefes Misstrauen gegen den bürgerlichen Kanon entwickelt, gegen das, was man angeblich gelesen haben muss. Nachdem ich Österreicherin bin, in Wien aufgewachsen und zur Schule gegangen bin, bin ich natürlich traktiert worden mit den Leselisten der österreichischen Gymnasien der Nachkriegszeit, das heißt, da war noch sehr viel katholisches Zeug drauf und einigermaßen dubioses Zeug, reaktionäres Zeug von den österreichischen Schriftstellern, die halt sich über die Nazizeit hinweggerettet hatten und auch nach dem Krieg noch tonangebend waren."
Sigrid Löffler. Kritikerin, Magazingründerin und TV-Literaturpäpstin, lange Jahre an der Seite von Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett. Sie sagt: "Natürlich habe ich das Zeug auch gelesen. Aber ich fand eigentlich immer die Autoren des Gegenkanons interessanter."

Dritte These: Der Kanon lebt von der Revolte gegen ihn

Schließlich ist er per definitionem autoritär. Und Autorität provoziert bekanntlich den Widerspruch der Jugend, mitunter auch anderer. Schon die Arbeiter im 19. Jahrhundert lehnten sich mit so genannter Arbeiterliteratur gegen den "bürgerlich" genannten Kanon auf. Die DDR propagierte in den 50er-Jahren mit dem so genannten Bitterfelder Weg eine "sozialistische Nationalkultur". Mit mäßigem Erfolg, betrachtet man den Kanon aus heutiger Perspektive – die Autoren des Bitterfelder Wegs sind vergessen. In der Bundesrepublik herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg der Stil der Gruppe 47 vor: ein karger Ton, getragen von der Idee eines ästhetischen "Kahlschlags". Alles, was zu erzählerischer Üppigkeit, zu Expressivität und Eigensinn neigte, war nach den rhetorischen Verführungen des Faschismus unter Generalverdacht geraten. Doch 1967 betritt ein junger Österreicher die Bühne und mischt die ihm als Juste Milieu erscheinende Nachkriegsmoderne auf.
Aus der Doku "Peter Handke. Bin im Wald, kann sein, dass ich mich verspäte", darin die Frage eines Interviewers von 1970 aus dem Archiv an Handke:
"Herr Handke, Sie sind ins Gerede, in die Zeitungen, durch einen Skandal oder eine Provokation gekommen, als Sie bei der vorletzten Tagung der Gruppe 47 in Princeton, in Amerika, auftraten und sich mit den literarischen Usancen, die dort herrschten, nicht einverstanden erklärten. War das von langer Hand vorbereitet? Hatten Sie da vor, sozusagen das Establishment aufzuschrecken oder ist das spontan wirklich gekommen?"
Peter Handke: "Ich hatte das natürlich nicht vor. Aber in dem Augenblick geschah es spontan. Und ich hab' mich selbst später dann gewundert, wie das überhaupt möglich war. Weil ich mich selber in so einer Situation noch nicht gekannt hatte."
Frank Witzel: "Brinkmann und Handke sind ganz wichtige Autoren für mich in meiner Anfangszeit des Selbstschreibens, die sich ja bewusst auch gegen den klassischen Kanon oder auch gegen den klassischen Literaturbetrieb gestellt haben. Also nur daran zu erinnern an die Princeton-Rede von Handke, wo er sozusagen die Arrivierten der Gruppe 47 einer gewissen Beschreibungsimpotenz zeiht, wenn ich mich richtig erinnere."
Aus der Doku: "Peter Handke. Bin im Wald, kann sein, dass ich mich verspäte", darin die zusammengeschnittene "Literaturschelte" von Handke in Princeton:
"Ich bemerke, dass in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorherrscht. Man sucht sein Heil in einer bloßen Beschreibung, was von Natur aus schon das Billigste ist, womit man überhaupt Literatur machen kann. Wenn man nichts mehr weiß, kann man immer noch Einzelheiten beschreiben. ... Es wird gar keinerlei Reflexion gemacht ... das Übel dieser Prosa besteht darin, dass man sie ebenso gut aus einem Lexikon abschreiben könnte. ... dieses System wird hier angewendet und es wird vorgegeben, Literatur zu machen, was eine völlig läppische und idiotische Literatur ist. (Aufbrausendes Gelächter des Publikums, auch Applaus). Und die Kritik ist damit einverstanden, weil eben ihr überkommenes Instrumentarium nur für diese Literatur ausreicht, gerade noch hinreicht. (Wieder durchaus wohlwollendes Gelächter des Publikums) Weil die Kritik ebenso läppisch ist wie diese läppische Literatur."
Sigrid Löffler: "Peter Handke und ich sind Altersgenossen. Wir sind der gleiche Jahrgang 1942. Ich habe ihn natürlich erst entdeckt in dem Augenblick, wo er zu schreiben begonnen hat. Das heißt, da war ich selber schon längst Journalistin. Das hat nichts mehr mit meinem Studium zu tun. Er ist erst nachher auf den Markt gekommen und die 'Hornissen', glaube ich, waren der erste Roman. Und ich habe ihn vom ersten Roman an gelesen, lese ihn bis heute. Er ist ein unglaublich produktiver Autor, ich bin ziemlich stolz, dass ich alle Erstausgaben habe. Und das sind inzwischen ... wie ich meine Bibliothek noch neulich mal wieder gemustert hab, bin ich draufgekommen, dass er ungefähr zwischen 85 und 90 Werktitel hat. Es gibt kaum einen Autor, der das von sich sagen kann."
Peter Handke steht in den 60er-Jahren für eine Literatur, die sich radikal auf Sprache bezieht. Sie ist es, die im Zentrum seiner Romane und Theaterstücke steht – nicht das, was sie beschreibt. Die Bücher benutzen Jargon, Sound und den rhythmischen Gestus der Popmusik. Sie sind politisch, betreiben Publikumsbeschimpfung und setzen dem wohlanständigen politischen Engagement der Gruppe 47 und ihrer sprachskeptischen Tendenz etwas sehr Lebendiges entgegen. Handke erobert die Sprache in aller Unbefangenheit zurück und mit ihr eine höchst individuelle Intensität des Ausdrucks. Von dieser Intensität lässt sich auch der junge Frank Witzel mitreißen. Handke zu lesen, ist für ihn wie eine Platte der Beatles zu hören.
Doch die größten Kritiker der Elche werden später selber welche. Handke, der Umstürzler des Nachkriegskanons, macht bald Konzessionen an den Zeitgeschmack. In Frank Witzels ironischem Kolportageroman "Vondenloh" verstümmelt der jugendliche Erzähler daher voller Enttäuschung seine Handke-Bücher.
"Ich kam gerade aus dem Bad zurück, wo ich die Asche das Klo hinuntergespült hatte, als ich hörte, wie jemand von unten kleine Steinchen gegen mein Fenster warf. Hustend vom Qualm ging ich zum Fenster. Vor dem Haus stand zu meiner Verwunderung Helga. Wir hatten seit der Klassenfahrt im September kein Wort mehr gewechselt. Ich ging nach unten und machte ihr auf. So als sei nichts gewesen, ging sie voran in mein Zimmer, um mir zum dritten und letzten Mal ein DIN-A4-Blatt mit Geschichten zu geben. Wir unterhielten uns etwas über den Schulalltag und dies und das, und erst im Hinausgehen fragte sie mich, ob ich ihr denn nicht mal etwas von Peter Handke leihen könne, den ich ihr doch immer als Vorbild empfehle. Ich war von meiner gerade abgeschlossenen Lektüre mit anschließender Verbrennung noch so aufgewühlt, dass ich nicht richtig reagieren konnte. "Hier, das zum Beispiel", sagte Helga und griff sich den Kurzen Brief, der zu 120 Seiten verstümmelt auf meinem Schreibtisch lag. Noch ehe ich etwas sagen konnte, hatte sie das Buch eingesteckt und war wieder die Treppe hinuntergeeilt. "
(Frank Witzel: "Vondenloh", S. 83 f.)
Frank Witzel: "Es geht um ein bestimmtes Buch von Peter Handke, nämlich 'Den kurzen Brief zum langen Abschied'. Da hatte ich das Gefühl als 16-, 17-Jähriger, dass hier Peter Handke genau diese Gegenposition zum offiziellen Kanon verlässt, weil er wieder – in Anführungszeichen – relativ normal erzählt. Also ein Buch, was sich wesentlich von den Büchern davor 'Angst des Tormanns', 'Hausierer', 'Hornissen', 'Begrüßung des Aufsichtsrats' unterscheidet. Das waren die Bücher, die ich irgendwie natürlich nicht verstanden habe, aber die ich interessant fand, weil ich sie nicht verstanden habe."

Vierte These: Die Kanonisierungschancen eines Buchs erhöhen sich mit dessen Rätselhaftigkeit

Frank Witzel: "Man hat einen Text, und man hat mit diesem Text zu tun, und das hat einen teilweise überfordert oder mich hat es natürlich überfordert. Aber es war ein Reiz daran, weil mir niemand reingeredet hat, weil niemand gesagt hat: 'Ach so! Du interpretierst das so! Das ist aber falsch. Fünf, völlig daneben!' Sondern weil ich selbst damit umgehen konnte. Und ich hatte praktisch keine Instanz zwischen mir und der Literatur. Darum geht es, glaube ich eher, merk ich gerade. Also so wie der Mystiker, der die Kirche nicht zwischen sich und Gott duldet, so habe ich quasi direkt einen Kontakt aufnehmen können mit gewissen Autoren und mit anderen eben nicht, weil die so vereinnahmt waren vom literarischen Klerus."
Literarisches Quartett, erste Sendung, 1988. Marcel Reich-Ranicki: "Meine Damen und Herren. Dies ist keine Talkshow. Was wir Ihnen hier zu bieten haben, ist nichts Anderes als Worte, Worte, Worte. 75 Minuten lang Worte. Und wenn’s gut geht, das ist ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen, vielleicht auch Gedanken."
1988 wird ein historisches Fernsehformat gegründet, das die Literaturkritik in Deutschland auf eine bisher ungekannte Weise popularisiert: das Literarische Quartett mit den Gastgebern Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek, Jürgen Busche und Sigrid Löffler. Die einzige Frau in der eher konservativen Kritikerrunde bringt mit Büchern von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz neue feministische Perspektiven in der Sendung unter. Und sie platziert bis zu ihrem Ausscheiden bewusst Autoren aus dem nichteuropäischen Ausland. Dann schafft sich Löffler ihr eigenes Podium.
"Die Zeitschrift, die ich gegründet habe, hieß ja nicht durch Zufall 'Literaturen', weil ich nicht mehr überzeugt war vom alleinherrschenden weißen, westlichen Literaturkanon, sondern gesehen habe, dass die Weltliteratur sich ganz anders wohin entwickelt. Und dass es andere globale Texte gibt, die von Leuten aus Afrika, aus Asien, aus der Karibik geschrieben werden und dass die zum Teil interessanter sind, mehr über unsere Welt aussagen, als wenn ich noch einmal zurückgreife auf Martin Walser oder die anderen Autoren, die für Reich-Ranicki so wichtig waren. Also insofern war ich, wenn man so will, das hat sich aber natürlich erst herausgemendelt im Laufe dieser vielen Sendungen, dass ich so eine Art Gegenposition hatte."
Peter Goßens: "Also den Eurozentrismus als konkreten Vorwurf – das ist eurozentristisch! – gibt es tatsächlich erst seit den 80er-Jahren, seit den Postcolonial Studies, seit der Frage, wie geht man mit den Minderheitenliteraturen in Ländern wie Amerika zum Beispiel um, wie geht man mit den Sklaven um oder mit dem Einfluss der schwarzafrikanischen Kultur in westlichen Ländern et cetera."
Sigrid Löffler: "Und natürlich hat mich diese vergessene oder verdrängte, verschüttete Tradition des weiblichen Schreibens interessiert, nicht nur an den aktuellen Autoren und Autorinnen wie eben der Jelinek, sondern auch an den früheren Texten. Also so jemand wie eine österreichische Autorin des 19. Jahrhunderts, Marie von Ebner-Eschenbach, das ist eine erstaunlich progressive Frau gewesen, wenn man bedenkt, dass sie eine Art böhmische Adelige war. Die hat schon interessante Sachen gesagt: 'Eine gescheite Frau hat tausende natürliche Feinde: alle dummen Männer.' Das sind so Sätze, die man als junge Feministin natürlich begierig aufgreift."
Kritikerinnen wie Sigrid Löffler sind wichtige Akteure bei der Neubewertung eines bis dato verbindlichen Kanons – und bei dessen Ausweitung. Was für die Ewigkeit geschaffen schien, was durch Schulen, Universitäten und soziale Distinktion im kollektiven Gedächtnis verankert wurde, weist wegen neuer gesellschaftlicher – also politischer, ökonomischer und kultureller – Entwicklungen mit einem Mal ein Verfallsdatum auf. Und durch die Neubefragung und Veränderung des Kanons wird deutlich, was alles auf der Strecke geblieben ist und jetzt nach Anerkennung verlangt.
Im Kanon spiegeln sich die gesellschaftlichen Verhältnisse – und die Gesellschaft spiegelt sich und ihre Fragen in ihm. Die zweite Frauenbewegung der 70er-Jahre fragt nach den Autorinnen, denen die große Bühne bisher verwehrt worden war. Ihre Entdeckung, an der sich viele Wissenschaftlerinnen und Kritikerinnen wie Sigrid Löffler beteiligt haben, ist bis heute nicht abgeschlossen. Ohne Widerstände läuft der Prozess natürlich nicht ab. Der Kanon besitzt Autorität und die, die ihn vertreten, auch.
Literarisches Quartett vom 10. März 1989. Vorgestellt wird unter anderem das neue Buch von Elfriede Jelinek, "Lust". Ein, wie mancher männliche Kritiker befriedigt feststellt, weiblicher Porno.
Marcel Reich-Ranicki: "Sie, Frau Löffler, Sie sind als Frau und Österreicherin verpflichtet, uns zu sagen, was in dem Buch drin ist."
Sigrid Löffler: "Ja, ja, das habe ich mir gedacht, dass Sie das sagen werden: Als Frau! Also Elfriede Jelinek zu nennen in einem Atemzug mit Thomas Bernhard ist eine Beleidigung gegenüber der Jelinek. Denn im Gegensatz zu Bernhard ist die Elfriede Jelinek wirklich radikal. Und sie schreibt nicht aus Koketterie, sondern sie schreibt wirklich aus Wut. Und ihr Buch…"
Reich-Ranicki: "Bei dem war keine Wut, bei Bernhard?!"
Löffler: "Die Wut ist, glaube ich, immer routinierter, immer glatter, immer kichernder geworden. Von einer echten Wut ist der Bernhard je länger er geschrieben hat, desto weiter entfernt."
Reich-Ranicki: "Aber die Hassliebe, der Hass…"

Fünfte These: Der Kanon ist immer auch Ausdruck des Zeitgeists

Sigrid Löffler: "Worum geht’s in dem Klassifizierung- und Filtergeschäft, das man als Kritiker betreibt? Man versucht natürlich, die Guten ins Körbchen und die Schlechten ins Kröpfchen oder wie das heißt. Das ist natürlich ein Geschäft, das das Gute vom Schlechten trennt. Und das macht man als Tageskritiker, also Kritiker in den Medien. Das macht dann vielleicht ein paar Jahrzehnte später die Literaturkritik in der Wissenschaft. Insofern ist man als Tageskritiker die Vorhut. Man weiß natürlich, dass das, was man saisonal für bedeutsam hält, möglicherweise über eine längere Frist nicht standhalten wird, sondern absinken wird und andere Bücher, die man vielleicht übersehen hat, dass sie historisch das Rennen machen. Man weiß natürlich, dass man über die Zeit, in der man selber steht, am allerschwierigsten urteilen kann und dass Fehlurteile eigentlich das sind, was man als Kritiker ständig fürchten muss."
Heinrich Böll verkörperte lange den Typus des engagierten Schriftstellers, der den Deutschen den Spiegel vorhielt. Als Gewissen der Nation schwieg er nicht über die Kontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik, setzte sich für die Versöhnung mit der Sowjetunion ein, äußerte Verständnis für die RAF, ohne ihre Ziele zu teilen, protestierte gegen die Aufrüstung in Mutlangen. Bölls Erzählungen und Romane, etwa "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", waren Schullektüre. Das ist schon länger vorbei. Bereits 1994 spottete der Satiriker Robert Gernhardt:
"Der Böll war als Typ wirklich Klasse. / Da stimmten Gesinnung und Kasse. / Er wär’ überhaupt erste Sahne, / wären da nicht die Romane."
Einem Autor, dem es bald ähnlich wie Heinrich Böll ergehen könnte, ist der 2015 verstorbene Günter Grass, meint Sigrid Löffler. Auch er war ein "engagierter" Autor, eine imposante öffentliche Figur der frühen und mittleren Bundesrepublik.
"Der hat ja wirklich jeden zeitgeistigen Topos sofort aufgegriffen, denn seine Romane sind auch meistens mit Verfallsdatum. Und viele von den Themen, die er aufgegriffen hat, sind verfallen. Andererseits glaube ich, sein erstes Meisterwerk 'Die Blechtrommel' wird möglicherweise überleben. Ich glaube, dass diese Figur Oskar Matzerath, sich festgesetzt hat. Ich glaube, die wird als merkwürdige literarische Figur bleiben."
Was lässt sich daraus lernen? Der scheinbar überzeitliche Kanon ist ständig in Bewegung. Dabei ist es ein bisschen so wie an der Börse: Ganz sicher sein kann sich niemand, wohin die Reise geht. Während so mancher Komet am literarischen Himmel schnell verglüht, erleben andere Autoren gleich mehrere Wiederentdeckungen in einem Jahrhundert. Natürlich spielt die Weltgeschichte in den Kanonisierungsprozess hinein. Anstelle des redlichen Versuchs einer Vergangenheitsbewältigung ist heute eher Identitätspolitik, die Darstellung von partikularen Perspektiven gefragt. Und die Rezeption von Literatur, ihre Reichweite und ihre Wirkung, haben sich radikal verändert. Heinrich Bölls Bücher sind heute nur noch historisch zu lesen. Heutige Leser und Kritiker vermissen oft den ästhetischen Überschuss, der ein Werk zu einem haltbaren macht.
Andererseits gibt es auch als kanonisch geltende Autoren, die ihrer eigenen Zeit weitgehend verschlossen geblieben sind.
Sigrid Löffler: "Wieviel Jahrzehnte nach dem Tod von Kafka hat es gedauert, eh er erkannt worden ist als der wichtigste Autor des 20. Jahrhunderts? Reiner Stach, sein Biograf, meint sogar, er sei Jahrtausendautor. Also da sieht man schon auch das Versagen der Kritik. Und dass sich solche Autoren dann eigentlich erst im Lauf der Zeit durchsetzen, wenn die Zeit sie eingeholt hat. Ich würde behaupten, dass Kafka zu seinen Lebzeiten in dem, was seine Texte, seine rätselhaften Texte bedeuten können, überhaupt nicht erkannt werden konnte, weil erst spätere Zeiten, die dann diesen Kollektivmenschen entdeckt haben, die die Massengesellschaft dann erlebt haben, dann überhaupt diesen Text erst richtig lesen konnten."
Vielleicht kann man es so ausdrücken: Während Kafka die Probleme seiner Zeit antizipiert hat und daher den Zeitgenossen schwer verständlich blieb, schrieb Böll für seine Zeit. Er wurde sofort verstanden. Damit war er aktuell, aber nicht visionär.

Sechste These: Ein kanonischer Text behält seine Relevanz auch unabhängig von den Zeitläufen

Was heißt das für die Kanon-Anwärter der Gegenwart?
Sigrid Löffler: "Wenn man so lang in dem Gewerbe ist wie ich, hat man natürlich Phasen der Entkanonisierung mitgemacht. Denken Sie nur, was der DDR-Literatur nach der Wende passiert ist. Da ist die Entkanonisierung von kanonischen DDR-Autoren geradezu erdrutschartig vonstattengegangen. Denken Sie an Autoren wie Peter Hacks, Hermann Kant, Stephan Hermlin, vor allem, aber natürlich auch Christa Wolf. Wie blitzartig die entkanonisiert worden sind. Also, da kann man schon als Kritiker dann skeptisch sein, was die Dauerhaftigkeit von Kanonverlautbarungen angeht. Da kann man schon demütig werden. Ich habe nie diesen Ehrgeiz gehabt, dass ich jetzt großartig am Kanon mitarbeite. Ich habe die Autoren und Bücher ausgesucht, die mir wichtig erschienen sind, hab' versucht, das möglichst gut zu begründen. Aber was dann endgültig in irgendeinem Kanon der vielen Kanones, die es heutzutage gibt, landen wird, weiß ich nicht. Und es ist mir auch nicht wichtig."
Obwohl ständig die Rede vom Kanon ist und obwohl er immer noch Maßstab für das kulturelle Selbstverständnis bestimmter sozialer Gruppen ist: Der Kanon ist längst zu einer Institution mit ziemlich vielen Abteilungen geworden. Unterschiedlichste Erwartungen und Aufträge werden an ihn herangetragen.
Peter Goßens: "Wenn wir ein modernes Kanonverständnis an die Literatur bringen, dann ist das kein in dem Maße mehr normativer Kanon wie das im 19. und im frühen 20. Jahrhundert war. Also die großen Klassiker, auf die wir uns verständigen können, die bleiben immer drin: Dante, Petrarca, Goethe, Cervantes, Shakespeare. Das sind alles Autoren, die bleiben in diesem Kanon drin und die werden wahrscheinlich auch nicht rausfallen. Aber wenn wir heute einen Kanon bilden, bilden wir eigentlich einen sehr individuellen Kanon. Jeder bildet diesen Kanon nach seinen Leserinteressen. Und da können alle möglichen Autoren in diesen Topf kommen, in dem der Kanon ist und es können natürlich auch wieder Autoren rausfallen, die für uns als Leser überhaupt nicht mehr von Interesse sind."
Sigrid Löffler: "Ich glaube, für das meiste, was auf dem Buchmarkt geschieht, ist der Literaturkritiker nicht mehr zuständig. Das sind Bücher, die sich durchsetzen kraft Marktmacht, Werbung, Publikumsgeschmack, Internetlob. Das sind Dinge, die den Literaturkritiker gar nichts angehen. Es hat keinen Sinn, wenn man seine Energie und seine Kritikfähigkeit auf solche Bücher verschwendet. Man sollte sich konzentrieren auf das, wo eigentlich das Wort des Kritikers noch gehört wird. Das ist die Belletristik im engeren und strengeren Sinne. Und das ist das Qualitätssachbuch. Über alles andere, was auf dem Markt an Bestsellern sich herumtobt, braucht man sich gar nicht abarbeiten. Die Bücher machen ihre Karrieren und sind erfolgreich, ganz ohne den Einspruch des Kritikers."
Verkäuflichkeit schafft in der Tat noch keinen Kanon. Feuilletons, Wissenschaft, literarische Öffentlichkeit tun es. Immer wieder rufen Zeitungen zu Neuordnungen des Kanons auf, sind Leserinnen und Kritikerinnen aufgefordert, ihren persönlichen Kanon darzulegen und zu begründen. Das Bedürfnis nach Orientierung scheint proportional zu den disruptiven Tendenzen der Medienmoderne zu steigen.
Sigrid Löffler: "Es ist natürlich rührend, und andererseits ist es natürlich auch das große Betätigungsfeld von Wichtigtuern. Also in dem Moment, wo Leute auf den Markt treten und sagen 'Das ist mein Kanon' und sie versuchen ihn zu dekretieren, ist dieser sogenannte Kanon auch schon diskreditiert. Weil das besitzanzeigende Fürwort vor 'mein Kanon' zeigt natürlich schon, dass es kein Kanon ist. Das sind irgendwelche kanonisierenden Privatleute, die ihre persönlichen Lieblingsbücher in Hitlisten verwandeln. Und wenn sie das auf dem Marktplatz dann tun, sollen sie es machen, hat aber natürlich überhaupt keinen Wert. Das sind so die Rückzugsgefechte der entmachteten Gralshüter des abendländischen Kanons. Also ich finde das Ganze überflüssig, lächerlich, das ist Medienunterhaltung, das interessiert überhaupt nicht."
Frank Witzel: "Der Kapitalismus wird immer sich nach dem richten, was die Masse eher konsumieren kann und wird natürlich dann sagen: Ja, wunderbar, Krimis für Jedermann! 'Sobald die Schoten platzen, die Literatur überlassen wir den Engeln und den Spatzen', wenn ich Heine paraphrasieren darf, der zu meinem Kanon gehört."
Die zunehmende Auffächerung des Kanons führt zu Verlustängsten: Wo Institutionen ihre normbildende Kraft verlieren, geht den Menschen die Orientierung verloren. Wenn es aber anstelle der einen Norm und des einen Kanon viele Normen und Kanones gibt, wird die Auflehnung sinnlos und der Streit irrelevant. Aber was geht einer Gesellschaft verloren, die sich – mit Niklas Luhmann gesprochen – nicht mehr synchronisieren kann durch ein kulturelles Gemeinsames?
Frank Witzel: "Ich finde, da sind wir doch an einem interessanten Punkt. Ich hatte ja am Anfang, oder auch aus meiner Historie heraus, das Negative des Kanons betont. Aber ist der Kanon nicht vielleicht auch etwas gewesen, was man so mit einer bürgerlichen Vereinbarung bezeichnet? Wenn es nur eine Vereinbarung ist, wie ein Gespräch zu führen ist, also, wie man miteinander redet oder wie man, wie man sich verständigt? Oder dass man über gewisse Codes auch verfügt?"

Siebte These: Der Kanon hält die Gesellschaft zusammen

Frank Witzel: "Wir leben auch in einer Zeit, wo natürlich auch der Künstler und damit auch der Kanon und das alles in Frage gestellt wird. Also, es wird sich partikularisieren, immer weiter. Und nicht nur zum Guten hin. Also, weil sozusagen jeder dann nur noch unter seiner Lupe das sieht. Die ganzen Diskurse finden dann irgendwie abgespalten statt. Das ist schon schade."
Die Klageschriften der Erziehungswissenschaftler, der Pädagogen, der Verleger, Buchhändler und einiger anderer Professionen rund ums Buch sind Legion. Zwar wird in Deutschland immer noch verhältnismäßig viel gelesen. Leitmedium gesellschaftlicher Debatten wie zu Bölls und Grass‘ Zeiten ist die Literatur aber nicht mehr. Der Niedergang des öffentlichen Intellektuellen und der Aufstieg des Experten, der verblassende Nimbus von Kunstwerken in Zeiten ihrer technischen Reproduzierbarkeit, die Filterblasen, die neuen Medien: Vieles nimmt den Literaten den Rang des Gesellschaftsorakels. Gleichzeitig ist mit Tabubrüchen à la Peter Handke nicht mehr allzu viel Aufregung zu erzeugen. Skandale verstören nicht mehr, sie dienen eher der Unterhaltung. Das Alte mit Neuem zu überschreiben, es also zu erneuern, ist eine geradezu altmodische Vorstellung von Modernität. Innovation ist heute nicht mehr das leitende Kriterium ästhetischer Produktion.
Sigrid Löffler: "Ohne jetzt unglaublich kulturpessimistisch klingen zu wollen, muss man einfach feststellen, dass das Prestige des Literaturkritikers im Schwinden begriffen ist. Die Literaturkritik ist heute marginalisiert. Es gibt ja nur noch wenige Leute, die in den Zeitungen Literaturkritiken, Rezensionen überhaupt lesen. Die sind zu schwierig, zu umständlich in der Argumentation. Die Leute lesen das nicht mehr, die holen sich ihre Meinungen über Bücher anderswo. Das hat damit zu tun, dass heutzutage der Konsument der eigentlich Tonangebende ist. Es ist nicht mehr der Kritiker, der entscheidet über die Wertigkeit von Kulturwaren, sondern es ist der Konsument. Was der Konsument konsumiert, wofür er Geld ausgibt, wofür er Zeit ausgibt, was er gut findet, was sich verkauft auf dem Markt, das gilt auch automatisch als gut. Und das muss man einfach sehen, dass die alte bildungsbürgerliche Qualifikation von Kunstwerken einfach heute nicht mehr gilt."
Die Frage nach dem kulturellen Grundbestand, der Goldklasse menschlicher Schaffenskunst, erübrigt sich damit keineswegs. Denn aller Flüchtigkeit jüngerer Kanonisierungsversuche zum Trotz: Es gibt sie, die echten Klassiker. Jene Bücher, die sämtliche Umwälzungen, Zerstörungen, Neuproklamationen des Kanons, alle gesellschaftlichen Umbrüche unbeschadet überstanden haben. Kulturelle Fußabdrücke aus Papier und Tinte, robust und unverwitterbar, wahre Fossilien der poetischen Einbildungskraft.
Sigrid Löffler: "Es sind die Bücher, auf die sich die Autoren selbst berufen. Die Bücher, mit denen sich die Schriftsteller auseinandersetzen, um darüber zu schreiben oder an denen sie sich abarbeiten, die sie wieder ins Gedächtnis rufen. Das ist der eigentliche Kanon. Das ist übrigens nicht meine Idee, das hat John Milton bereits formuliert, in seinem Traktat 'Areopagitica. Rede über die Freiheit der Presse an das Parlament von England' 1644. Darin hat er eigentlich eher nebenher die Definition des literarischen Kanons geliefert, indem er sagt: Kanon sind jene Werke, die die Schriftsteller, die Autoren selber nicht willentlich sterben lassen. They don’t let willingly die. Und genau darum geht es: Die Werke, auf die sich die Autoren heute berufen, die sie wieder ins Gedächtnis rufen, die sind der Kanon."
Frank Witzel: "Es gibt gar nicht diese Konfrontation zwischen klassisch und alternativ, um’s jetzt mal so zu sagen. Oder wie hat man damals bei der Musik gesagt: progressiv und kommerziell. Sondern es gibt überall Sachen, die mich ansprechen, in jedem Bereich. Also, ich bin ein großer Proust-Leser, ein Autor, der sehr wichtig ist für mich. Den würde ich aber nicht unbedingt mit Kurt Vonnegut vergleichen wollen, der ein anderer Autor ist, der für mich wichtig ist. Das heißt, es gibt da auch andere Gründe, warum sie für mich wichtig sind. Und innerhalb dieses Kanons, zu dem sie beide jetzt gehören – ich nehme mal zwei Extrembeispiele – haben sie auch eine andere Bedeutung für mein eigenes Schreiben. Aber ich bin schon jemand, der natürlich innerhalb von Literatur schreibt, also mit dem Hintergrund und mit dem Wissen und mit dem Bezug auch auf andere Autoren."
Sigrid Löffler: "Also, wenn 'Robinson Crusoe' vielleicht gar nicht mehr gelesen wird, aber wenn, was mir gerade aufgefallen ist, Lutz Seiler einen Roman schreibt über die Insel Hiddensee und die Hauptfigur heißt Kruso, wenn die Jane Gardam einen autobiografischen Roman schreibt und der heißt 'Robinsons Tochter', dann ist damit natürlich auch dieses Werk wieder ins Gedächtnis gerufen worden. Und ich weiß nicht, wenn Botho Strauß ein Theaterstück schreibt 'Der Park', und das ist eigentlich eine Neubearbeitung von Shakespeares 'Sommernachtstraum', dann können Sie sehen, dass diese alten Werke noch am Leben sind und auch heutigen Autoren noch was zu sagen haben. Auch Christa Wolf. Wenn sie Medea als ihre Identifikationsfigur nimmt für die Frau aus der Fremde, die in ihrem neuen Land nicht erwünscht ist und vertrieben wird, dann identifiziert sie sich mit einer Figur, die zweieinhalbtausend Jahre alt ist. Also daran können Sie sehen: Es gibt so etwas wie eine Bundeslade der lesenden Menschheit, da sind die Texte drin, die die Zeiten überdauert haben."
Wenn der Kanon eine Art Gefäß ist, in dem die Menschheitsfragen in Form von Literatur aufbewahrt werden, was ist dann ein Klassiker im Verhältnis zu seinem Gefäß? Der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño definierte es einmal so: Ein Klassiker, das sei ein Werk, das die Kraft habe, den bestehenden Kanon neu zu ordnen.
Peter Goßens: "Wenn Bolaño sagt, dieser Kanon wird durcheinander gewürfelt und stetig neu gemacht, dann ist das eben der Prozess der aktiven Lektüre, die Kanonbildung permanent begleitet und die den Kanon zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch ausgemacht hat und jetzt in Zeiten der Globalisierung wieder neu entstehen lässt, die Debatten um Kanon, die Vorstellung: Was ist Kanon und was gehört da rein?"
Wichtig scheint bei allen Diskussionen über Sinn und Zweck, Struktur und Beschaffenheit, Vergangenheit und Zukunft des Kanons, dass er die Werke, die er beherbergt, manche schon erstaunlich lang, im Gedächtnis hält. Das geschieht durch Lektüren und das Gespräch über diese Lektüren. Denn ähnlich wie ein Denkmal kann ein Kanon auch die Grabplatte eines Werks sein. Mit anderen Worten: Es ist eine nie ganz zu entwirrende Dynamik aus Festigkeit und Flüchtigkeit, aus Anbetung und Kritik, die den Kanon vor seiner Erstarrung rettet.
Der Kanon lebt, weil er so oft schon gestorben ist!
Frank Witzel: "Es gibt doch da in dem 'Simplicissimus' diese schöne Stelle, wo er sozusagen sieht, dass der Mönch liest, dass der da auf irgendetwas schaut und irgendwie in ihm sich Gefühle entwickeln und er ganz begeistert davon ist. Und er schaut da drauf und natürlich, weil er nicht lesen kann, da entwickelt sich nichts aus den Worten. Und er will das eben auch. Und deswegen lernt er dann lesen. Dieser Anstrengung bedarf es eben immer wieder. Und ein Leben lang. Eigentlich mich hat es immer beruhigt, mich beruhigt, dass es so viele Bücher gibt, die ich eben noch nicht gelesen habe. Und es würde mich wirklich beunruhigen, wenn ich irgendwie sagen würde, oh jetzt, da ist noch so ein Buch, das habe ich noch nicht gelesen. Und dann ist Schluss."

Schlag nach bei Shakespeare. Wie der literarische Kanon entsteht – und wieder vergeht
Von Katharina Teutsch
Mit Frank Arnold und Frauke Poolman
Ton: Hermann Leppich
Regie: Clarisse Cossais
Redaktion: Jörg Plath
Webdarstellung: Sven Crefeld
Produktion Deutschlandfunk Kultur 2021

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