Literatur

Blick durch die dunkle Scheibe

Neapel
Neapel taucht im Werk von Anna Maria Ortese immer wieder auf. © dpa / picture alliance / Andreas Engelhardt
Von Maike Albath |
Mit der Literaturszene hatte Anna Maria Ortese wenig zu tun. Erst knapp 80-jährig fand sie mit dem Roman "Die Klage des Distelfinken" ein größeres Publikum. Oft waren Neapel und seine Bewohner ihr Thema.
Die Schriftstellerin Anna Maria Ortese besaß ein Gespür für Ausgegrenzte. Vielleicht lag das an ihrer Verbindung mit dem volkstümlichen Neapel, wo sie nach vielen Umzügen einen Teil ihrer Jugend verbrachte. Am 13. Juni 1914 geboren, stammte sie aus einer Familie mit sieben Kindern, die kaum über die Runden kam. In einem ihrer schönsten Bücher "Das Meer umspült Neapel nicht" von 1953 schildert sie eine Pfandleihe:
"Ein Aufseher mit schwarzem Schnauzbart und großen kraftlosen Augen, der seine Uniform wie einen Morgenmantel trug, ging auf und ab, gleichgültig und gelangweilt, und tat gelegentlich so, als würde er mit seinen Händen in den Reihen wieder für Ordnung sorgen. Er redete mit irgendjemandem als die große Tür der Halle sich plötzlich öffnete und eine einfache Frau von ungefähr vierzig hereinstürzte, mit roten Haaren, schwarz gekleidet, zwei kleine bleiche Kinder mit sich schleifend."
Diese Person ist viel zu spät dran, aber ihre Verzweiflung bricht den Wartenden das Herz.
"Nichts half, die Frau in der Pfandleihe zu beruhigen. Auch als man ihr versicherte, dass sie sich ohne weiteres in die Schlange stellen könne, schluchzte sie weiter und rief: 'Madonna del Carmine, hilf mir!'"
Mit stiller Ironie kommt Ortese der Neapolitanerin auf die Schliche - die Kinder sind Staffage, die Tränen gespielt. Anna Maria Ortese, eine dunkelhaarige Schönheit mit feinen Gesichtszügen, legte 1937 ihren ersten Erzählungsband vor und traf eine ungewöhnliche Entscheidung für eine junge italienische Frau: Sie wollte ihr Leben dem Schreiben widmen. Gemeinsam mit ihrer Schwester, die bei der Post arbeitete und für beide sorgte, ließ sie sich 1945 in Neapel nieder. Zu ihren Freunden zählte der Romancier Raffaele La Capria. Er erinnert sich:
"Anna Maria Ortese hat eigentlich immer gelitten. Insgeheim nannte ich sie 'die Schmerzistin', das habe ich ihr natürlich nie gesagt. In unserer Jugend lud ich sie manchmal ein, mich zum Tauchen zu begleiten, auch um sie aus ihrem finsteren Loch zu locken und ein bisschen aufzuheitern. 'Komm', wir fahren auf die Insel Procida', habe ich ihr eines Morgens gesagt. Wir brachen bei strahlendem Sonnenschein auf. Aber statt sich an dem Sommertag zu freuen und aufs Meer zu schauen, verkroch sie sich in der dunkelsten Ecke, die es auf der Fähre gab. "
Neapel als Obsession
In den 50er-Jahren verließ Ortese Neapel, auch weil sie sich mit den Intellektuellen überworfen hatte. Aber die Stadt am Golf blieb ihre Obsession und tauchte in zahlreichen Romanen wieder auf. La Capria:
"Ich habe sie immer mit diesen Nachtfaltern verglichen, die nur in der Dunkelheit hervor kommen. Sie war eine Totenbeschwörerin und konnte durch eine verdunkelte Scheibe besser sehen - so wie man es bei einer Sonnenfinsternis macht, wenn man durch eine rußige Glasscherbe schaut, um die Sonne betrachten zu können. In diesem Blick durch die dunkle Scheibe bestand ihr Schmerz, ihre Fantasie, ihre Beziehung zum Leben. Anna Maria war eine sehr verletzbare Person, viel verletzbarer als wir alle, sie war fast hautlos, kaum berührte man sie, litt sie schon. Aber sie war ungeheuer hartnäckig."
Mit ihrer Schwester zog sie zuerst nach Mailand und dann nach Rapallo. Anna Maria arbeitete ausschließlich nachts, hockte mit einer Schreibmaschine auf den Knien in der Küche. Sie verfasste bedrängende literarische Reportagen und prägte ein Genre, das zwischen Essay und Roman changierte.
Gleichzeitig schrieb sie surreale Märchen, versponnene Geschichten über arme Kreaturen wie "Iguana" und "Die Klage des Distelfinken". In der politisierten Atmosphäre nach 68 brachte ihr ihre poetische Erzählweise zwar Respekt ein, aber die Verkaufszahlen blieben niedrig. Bitterarm und von Obdachlosigkeit bedroht, bekam sie in den 80er-Jahren vom Staat eine Künstlerpension.
Trotz ihres zunehmenden Ruhms bestand Ortese auf ihrer Isolation: Nicht einmal Fotos von ihr durften kursieren. Am 9. März 1998 starb sie. Ihre Hartnäckigkeit hat sich bewährt: Heute zählt sie zu den großen weiblichen Stimmen der italienischen Literatur.