Literatur

Der heitere Apokalyptiker

Der Schriftsteller Günter Kunert im Jahr 2006.
Der Schriftsteller Günter Kunert im Jahr 2006. © dpa-Zentralbild / Jan Woitas
Von Christian Linder |
Im Jahr 1979 verließ Günter Kunert die DDR. Der Entzug der SED-Mitgliedschaft ging voraus – er hatte die Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann unterschrieben. Seit 35 Jahren lebt er in Schleswig-Holstein und schreibt dort an seinem Lebensjournal. Der deutsch-deutsche Schriftsteller wird 85.
Wenn man im schleswig-holsteinischen Itzehoe aus dem Zug steigt, sich ins nächste Taxi setzt und bittet, nach Kaisborstel gefahren zu werden, weiß jeder Taxifahrer sofort, dass das Ziel nur das alte Schulhaus in dem knapp 80-Seelen-Dorf sein kann. Sein Bewohner, der Schriftsteller Günter Kunert, nicht nur berühmt, auch berüchtigt als "männliche Kassandra von Kaisborstel" und "griesgrämiger Apokalyptiker", erweist sich als ein überaus heiter-freundlicher Mensch und sieht tatsächlich so aus wie auf den bekannten Fotos: Ein großer, kahler Schädel, und mit dem Schnauzbart ergibt das Bild nach einer Kunert'schen Selbstbeschreibung "die melancholische Physiognomie eines Seehundes".
Literarische Kassandra
Den Ruf, eine Kassandra zu sein, hat der Autor sich in gut 60 Jahren fleißig erschrieben. "The big book" nennt er sein Lebensbuch, ein Konvolut von Notizen, an dem er Tag für Tag arbeitet, sehr diszipliniert, und da er meistens abends um halb zehn mit den Hühnern zu Bett geht, beginnt er den Tag in aller Frühe, mit Zeitungle-sen und Radiohören – um sich danach an den Schreibtisch zu setzen und sein Lebensjournal zu führen. Oder ein Gedicht zu schreiben:
"Die Stille ... Gerade zum Herbst hin garantiert der Abend ihr Erscheinen. Die alte Zeitreisende vom Anfang der Welt ohne Substanz. Sie belässt ihr Gesicht im Lampenschatten oder hat gar keines. Sie handelt mit einer Droge, derzufolge ich die Wirklichkeit vermeide, in der ich nicht bin. Manchmal sogar meldet sie ihre Anwesenheit durch Tapetenknistern, durch das Aufseufzen der schlafenden Katze, durch einen plötzlich vernehmbaren Herzschlag, über dessen Ursprung ist erst nachdenken muss."
"Wegschilder und Mauerinschriften" heißt sein 1950 in Ost-Berlin im Aufbau-Verlag erschienener erster Gedichtband. Kunert galt seither als einer der vielversprechendsten Autoren der DDR – zumal vor dem Hintergrund seiner Biografie: Geboren am 6. März 1929 als Sohn einer jüdischen Mutter in Berlin erfuhr er alle Lebensverhinderungs-Maßnahmen, die sich die Nationalsozialisten für jemanden wie ihn ausgedacht hatten.
Kindliche Traumata
"Ich glaube, dass die frühen kindheitlichen Erfahrungen aus der Nazi-Zeit ganz bestimmte Auswirkungen und Spätfolgen hatten. Einerseits doch eine Traumatisierung und damit verbunden eine bestimmte Sensibilisierung. Und das andere war, da ich ja dieser berühmten Volksgemeinschaft nicht angehörte, ich auch dann nicht mehr die verlangte Hingebung an das nächste System produzieren konnte. Bei aller Überzeugung – und ich war ein ganz überzeugter Sozialist, bestand doch eine Distanz.
Auch die DDR-Kulturpolitiker erkannten bald diese Distanz. 1967 gab ein Schriftsteller-Lexikon zu bedenken: "Mitunter bleibt in jüngsten Schöpfungen das von K. poetisierte Ideal der Vernunft abstrakt (so wenn er nicht-antagonistische Widersprüche im Sozialismus zur ‚Weltproblematik' verabsolutiert)."
1976 unterschrieb Kunert den Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann – und bürgerte sich damit selbst aus. Seit 1979 lebt er in Kaisborstel in Schleswig-Holstein und kommentiert die Weltläufte, indem er Utopien als "letzten Gott und Halt" ablehnt und lieber mit dem Titel eines seiner Bücher von "Tröstlichen Katastrophen" erzählt.
"Ich finde, dass der wahre Halt eines Schriftstellers, sein wahres Selbst nichts anderes sein kann als seine Literatur."
Kunerts Gedichte, Aphorismen, Essays, Hörspiele, Prosastücke – sie alle ergeben sein "big book". Literatur als ein "Anschreiben gegen die Zeit". Als er, 30 Jahre nachdem im März 1972 Amerika die Raumsonde Pioneer 10 auf den Weg in den Weltraum zur Erforschung des Planeten Jupiter gebracht hatte, in der Zeitung las, dass die Sonde immer noch schwache Signale aus einer Entfernung von damals 12,1 Milliarden Kilometer schickte und die Signale mehr als elf Stunden benötigten, um die Erde zu erreichen, wusste er:
"Auch ich gebe noch schwache Lebenszeichen von mir, insbesondere schriftliche, weil meine Mission noch nicht beendet ist. Auch bin ich nur, Kopf eingerechnet, einen Meter sechsundsiebzig von der Erde entfernt, was nicht bedeutet, dass die Signale meines Hirns weniger Zeit benötigen, um aufgezeichnet zu werden."
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