Stefan Weidner: 1001 Buch. Die Literaturen des Orients
Edition Converso, Bad Herrenalb 2019
400 Seiten, 30 Euro
Faszinierend heterogen, erzählerisch und immer spirituell
09:53 Minuten
Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner führt in die Literatur des Orients ein. Er wirbt mit Leidenschaft dafür, mehr Bücher aus der arabischen Welt zu lesen: Durch ihre erzählerische Tradition sei sie oft lebendiger als die westliche Literatur.
Andrea Gerk: Die Märchen aus "1001 Nacht" kennt fast jedes Kind, vom Koran haben auch die meisten schon mal gehört, aber dann wird es doch eher dünn, wenn es um Leseerfahrungen mit Texten aus dem Orient geht.
Der Islamwissenschaftler, Autor und Übersetzer Stefan Weidner ist ein hervorragender Kenner der Literaturgeschichte des Orients, die er uns jetzt in seinem neuen Buch näherbringt, "1001 Buch" heißt es, und Stefan Weidner stellt es am Wochenende in Berlin im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals vor.
Ihr Buch trägt den Untertitel "Die Literaturen des Orients", und Sie gehen auch dieser Frage des Begriffs gleich nach. Darf man das überhaupt sagen: Orient?
Weidner: Eine Zeit lang durfte man das nicht sagen mit guten Gründen, denn die Bezeichnung Orient oder das Orientalische hatte ja zwei Seiten. Einerseits wurde damit eine große Weltgegend zusammengefasst, die vielleicht sehr heterogen ist, also gar keine Einheit bildet, andererseits wurde mit diesem Adjektiv orientalisch auch vieles abgewertet.
Es gab die orientalische Despotie zum Beispiel, die Orientalen galten früher im Kolonialismus als faul, als nicht kompatibel für die Moderne, man musste sie erst mal zivilisieren.
Das waren also diese ganzen negativen Klischees, die gab und gibt es, allerdings gibt es natürlich auch das positiven Orientklischee: der Orient als Fantasieraum, ich habe es genannt einen polykulturellen Imaginationsraum, also ein Raum, wo man die Fantasie spielen lassen kann in einem positiven Sinne, und das tun übrigens auch viele orientalische Autoren.
Auch die haben teilweise ein positiv besetztes Orientbild, und wenn man jetzt historisch schaut, kann man feststellen, tatsächlich: Es gibt einen Zusammenhang der Literaturen des Orients. Ich beschränke mich de facto auf die Literaturen der islamischen Welt, und da lässt sich der Zusammenhang nicht leugnen, kulturgeschichtlich, sprachlich, was die Schrift angeht, was die Motive angeht, was die Mystik angeht. All das gehört wirklich zusammen.
Orient - das ist viel mehr als nur der Islam
Gerk: Islamische Welt: Da gibt es auch ein Klischee, was man gleich im Kopf hat, dass das dann alles auch automatisch islamische Literatur ist und religiös konnotiert. Damit räumen Sie auch auf in Ihrem Buch.
Weidner: Ganz genau, deswegen habe ich das auch nicht genannt: eine Geschichte der Literaturen der islamischen Welt. Dann denkt man sofort wieder in diesen religiösen Kontexten.
Nein, Orient ist natürlich viel mehr als der Islam. Zum Orient gehört zum Beispiel auch das orientalische Christentum. Zum Orient gehören jüdische Schriftsteller, die auf Arabisch schreiben, oder irakische Juden, die in Deutschland leben und auf Englisch schreiben oder Palästinenser, die in Israel leben und auf Hebräisch schreiben, auch Christen, die im Libanon leben und auf Französisch schreiben, Ausgewanderte, die in Deutschland leben.
Das gleiche gilt natürlich für die alte Zeit. Die hebräische und die arabische Literatur standen in einem engen Wechselverhältnis, und der Orient hatte immer auch eine säkulare und säkularisierte und geradezu auch religionsfeindliche Seite.
Nicht nur die modernen Autoren sind oft sehr religionskritisch, sondern auch in alter Zeit gab es große Skeptiker, gab es Häretiker. Die ganze große Tradition der klassischen altarabischen Dichtung hat eine säkulare Tradition. Die glauben nicht an Gott, die reden von Wein, Weib und Gesang und wie schön ihre Kamele sind, mit Gott haben sie nichts am Hut.
Die orale Tradition ist sehr stark
Gerk: Wie wichtig ist denn für die orientalische Literatur das Erzählen? Das ist ja auch wieder ein Klischee, ich höre dann danach auch gleich mal mit den Klischees auf. Aber dass, wenn man mal in Marrakesch war: Da sitzen immer noch die Märchenerzähler da auf dem Marktplatz. Wie sehr kommt das aus einer oralen Tradition?
Weidner: Das stimmt, das gibt es immer noch. Diese Tradition ist sehr stark, und sie ist real. Das ist ja auch eine schöne Tradition. Wenn Sie mal eine Lesung von Rafik Schami gehört haben, dann merken Sie, der liest gar nicht aus seinem Buch vor, sondern er erzählt die Geschichten.
Das mache ich übrigens auch. Wenn ich vortrage aus dem Buch, dann lese ich das nicht trocken ab, sondern erzähle das. So muss es sein, denn die Drucktechnik ist ja erst Mitte des 19. Jahrhunderts wirklich in der islamischen Welt verbreitet worden. Im Grunde auch ein Effekt des Kolonialismus. Vorher gab es nur Handschriften oder die mündliche Übermittlung. Viele Leute konnten gar nicht lesen, selbst die Leute, die lesen konnten, sind mündlich an die Texte heran.
Man hat die Texte vorgetragen bekommen. Der Koran ist ein Werk, das man nie wie ein Buch gelesen hat, das man auch heute in Übersetzungen nicht wie ein Buch lesen sollte, sondern das mündlich vermittelt wurde. Man liest den Koran nicht wie die Bibel vom Anfang der Welt, von der Genesis, fortschreitend bis in die neuere Zeit. Nein, es ist ein Buch, was wirklich zusammengestellt worden ist nach ganz anderen Kriterien, und das muss man erst mal verstehen.
Das sind oft mündliche Kriterien, und das macht diese Literatur bis heute so lebendig. Auch die heutige arabische oder orientalische oder persische, türkische und auch kurdische Romanliteratur lebt von ihrem Kontakt zum mündlichen Erzählen. Das macht sie oft lebendiger als unsere Literatur.
Das Tolle ist ja, dass man alle diese Bücher mittlerweile auf Deutsch lesen kann. Ich spreche ja nur über Bücher, die man auf Deutsch lesen kann. Das heißt, ich kann die Geschichte der Literatur der islamischen und orientalischen Welt erzählen, indem ich nur auf Bücher verweise, die es auf Deutsch gibt.
Orientalische Blumigkeit? Eine westliche Projektion
Gerk: Gibt es denn trotz dieser unglaublichen Vielfalt, die Sie so schön beschrieben haben - wer da in welchen Sprachen schreibt und in welchen Kulturkreisen, die eigentlich erst mal auf den ersten Blick gar nichts direkt miteinander zu tun haben - gibt es trotzdem da etwas Verbindendes, wo Sie sagen würden, da ist eine Ästhetik zum Beispiel oder eine inhaltliche Linie, die das verbindet?
Weidner: Es gibt ja das Klischee von der orientalischen Blumigkeit. Ich glaube, das ist ein bisschen eine westliche Projektion. Es gibt aber eine Vorliebe für Metaphern zum Beispiel. Dann gibt es natürlich die religiöse Grundierung, die keine streng islamische ist, sondern eine spirituelle. Es gibt einen Weltzusammenhang, der sozusagen bei Gott anfängt und bis in die kleinsten Kleinigkeiten des Alltags hineinreicht.
Selbst wenn die Leute nicht streng gläubig sind, merkt man, es ist eine Welt, die als geschlossene, als ganze und in gewisser Hinsicht auch noch als unentzaubert, also als noch verzauberte wirkt.
Das heißt nicht, dass dort die Tragik abhandengekommen ist, auf die wir in der Moderne ja so stolz sind, die Moderne ist ja die gebrochene Weltanschauung, nichts mehr ist klar, liegt klar zutage, wir müssen uns immer neu orientieren.
Da gibt es die große übergreifende Orientierung, die aber natürlich auch eine Orientierung am nicht unmittelbaren Materiellen ist, sondern die immer eine spirituelle Dimension hat. Das finden Sie durchgehend, selbst bei Dichtern, die völlig säkular sind, wie zum Beispiel Adonis, ein syrischer Lyriker, den ich selbst auch sehr viel übersetzt habe, der dezidiert sagt, Gott ist tot, aber der trotzdem in seinen Werken eine spirituelle oder eine größere Dimension hat, die bei uns mir oft fehlt in der Literatur.
Das ist alles sehr klein und auf das konkrete Hier und Jetzt schon wichtig, das gibt es auch in der orientalischen Literatur, aber dass man mal über den eigenen Horizont schaut und sagt, wie ist eigentlich die Welt, was ist die Welt, wie ist die Metaphysik. Das finden wir da, und das finde ich ganz toll.
Die orientalischen Autoren kennen die westliche Literatur ...
Gerk: Jetzt sagen Sie ja auch in dem Buch, dass es eine ganz schöne Schieflage gibt zwischen dem Orient und unserer Literaturwelt. Die Buchgelehrten im Orient kennen alle die westliche Literatur, aber hier kennt sich kein Mensch so richtig aus mit dem, was Sie uns so schön auffächern. Und dass Ihnen das ein großes Anliegen ist, das zu ändern. Glauben Sie, wenn wir mehr orientalische Literatur lesen, dass dann auch viele Vorurteile - die ja gerade diskutiert werden mit dem Islam hier in unseren westlichen Gesellschaften - dass das helfen kann, dass wir besser damit klarkommen?
Weidner: Ja, zwangsläufig. Das geht gar nicht anders. Lesen Sie einen Roman aus der arabischen Welt, meinetwegen sehr eingängig von Ala al-Aswani, einem ägyptischen Autor, "Der Jakubiyan-Bau", den gibt es auf Deutsch im Lenos-Verlag. Da wird ganz offen gesprochen über die Situation in Ägypten, über Homosexualität, über die Islamisten, über Geschlechterungleichheit, über die Korruption, über alles, und Sie wissen sofort, das sind Menschen, die absolut auf unserem Niveau auf ihre Gesellschaften schauen und trotzdem mit einer Liebe, wo nichts einfach so verurteilt wird.
... aber andersherum gilt das nicht
Sie müssen ja sehen, diese Asymmetrie, von der Sie gesprochen haben, die Wissensasymmetrie, wir kennen im Grunde nur die Literatur der westlichen Welt oder anglophonen Welt. Wir kennen vielleicht noch ein paar indische Autoren, die in westlichen Sprachen schreiben, aber wir kennen nicht die modernen orientalischen Literaturen, außer vielleicht ein paar Spezialisten, während die orientalischen Autoren alle auch mit der westlichen Literatur aufgewachsen sind, das heißt, auch der westlichen Philosophie.
Adonis zum Beispiel, der syrische Dichter, kennt die abendländische Philosophie und Geistesgeschichte und Lyrik aus dem "ff". Der zitiert Heidegger, Hölderlin, allesmögliche. Welcher Dichter von uns kann sagen, dass er deren Literatur, die orientalischen Literaturen wirklich kennt? Um die Möglichkeit zu schaffen, sich diese Literaturen erst mal zu erlesen, zu erarbeiten, überhaupt zu schauen, was es da gibt, dafür habe ich dieses Buch geschrieben.
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