Literatur

Die Schattenseiten der Utopien

Von Holger Heimann |
Auf dem Tessiner Monte Verità, dem Berg der Wahrheit, trafen prominente Autoren wie Herta Müller, Peter Nadas und Durs Grünbein zusammen – und diskutierten die dunklen Seiten utopischer Gesellschaftsprojekte. Auch Europa war ein Thema.
Der Sonne entgegen! Die ewige Sehnsucht machte vor 100 Jahren einen kleinen Schweizer Berg am Lago Maggiore zum interessantesten Ort der Welt. Träumer und Neugierige reisten aus ganz Europa an, um das kooperative Experiment einer Gruppe von Zivilisationsflüchtlingen auf dem Monte Verità, dem Berg der Wahrheit, zu bestaunen. Diese Aussteiger hatten sich Sonnenkult und Vegetarismus genauso verschrieben wie einer anderen Orthografie. "Utopien und herrliche Obsessionen" war mithin schlüssig die erste Ausgabe des neuen Literaturfestivals Monte Verità überschrieben – mit dem Ziel, an den Mythos des Berges anzuknüpfen und diesen zugleich neu zu beleben.
Doch bereits im zweiten Jahr hat sich der Tenor gänzlich verschoben. "Utopien und Dämonen" hieß jetzt die Paarung. Nicht mehr die Herrlichkeit fantastischer Träume, sondern vielmehr ihr bedrohliches Potenzial wurde mithin in den Vordergrund gerückt. Der Kurator des Festivals, Joachim Sartorius, begründet die dramatische Wende mit den Erfahrungen der Premiere:
"Vielleicht waren wir beeinflusst von den Schlussdiskussionen bei der letzten Ausgabe, dass zumindest alle großen politischen und gesellschaftlichen Utopien, so gut sie begonnen haben, immer ins Böse abdriften."
Und so versicherte Nobelpreisträgerin Herta Müller gleich zum Auftakt des Literaturfestes, dass ihr das Wort "Utopie" ganz und gar suspekt sei. Die Autorin, deren zurückhaltende Präsenz und radikale Offenheit einen der Höhepunkte der vier Literaturtage markierten, hat das Substantiv "Utopie" denn auch aus ihrem Wortschatz gestrichen. Es war vielleicht ein bisschen verrückt, mindestens aber bemerkenswert, dass ein Festival, welches dem utopischen Denken nachspüren will, dieses jetzt so entschieden verabschiedete.
Geimpft gegen politische Utopien
Doch eingeladen waren vielfach Autoren, die leidvolle Erfahrungen gegen jegliche politische Versuchung imprägniert haben. Durs Grünbein etwa gab zu Protokoll, Utopie bedeute für ihn nichts anderes als die Planung von Verlusten. Und der Ungar Peter Nadas bekannte, dass er gegen jegliche utopische Gesellschaftsentwürfe geimpft sei. Auf mehreren Tausend Seiten hat er im "Buch der Erinnerung" und in "Parallelleben" den Auswüchsen der Heilslehren des 20. Jahrhunderts nachgespürt. In Ascona war zu erleben, zu welcher Klarheit er dabei gelangt ist:
"Ich will auch nichts über politische Utopien hören. Aber ich habe Nebenfragen. Eine Welt, wo keine geistigen Utopien da sind, ist flach und langweilig und ist auf reine Unterhaltung gesetzt. Das ist geistig null. Ein Nullpunkt. Europa ohne diese utopischen Ideen ist an diesen technischen, finanziellen, ökonomischen Utopismus verfallen – ohne Kontrolle. Ein gänzlich langweiliges System, das in rasendem Tempo zu einer Kollision fährt."
Europa-Skepsis und Europa-Begeisterung
Die Europa-Skepsis des Romanciers fand ihren extremen Gegenpol in der Europa-Begeisterung eines Autors, den man zuerst als Politiker kennt. Daniel Cohn-Bendit, für die Grünen über Jahre im Europäischen Parlament, feierte auf dem Monte Verità die Neuordnung unseres Kontinents nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs als Zeitenwende.
"Ich finde das, was wir geschafft haben in Europa seit 45, unvorstellbar. Es gibt noch viel zu tun. Wir sind noch weit von den Vereinigten Staaten von Europa, von denen ich träume. Aber es ist ein zivilisatorischer Fortschritt, unglaublich."
Cohn-Bendit blieb mit seinem eloquenten Optimismus jedoch ziemlich allein auf dem Berg der Wahrheit. Anderen fehlte durchaus das Zutrauen in sein erträumtes Europa, weil sie, wie Peter Nadas, die Gegenwart als problematisch erleben. Und das nicht nur vor dem Hintergrund des Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland. Im aufgeklärten Pessimismus des Budapester Schriftstellers jedenfalls schien sich eine gänzlich andere Weltsicht auszudrücken.
"In einer Diktatur zu leben, das ist unglaublich kompliziert. Aber jede Gesellschaft injiziert Gifte. Diese Gifte sind verschieden. Und jeder muss sich entgiften, wenn es geht. Aber jeden Tag muss man sich entgiften."
Bleibende Impulse gab es nicht
Konsequenter als die ersten Siedler des Monte Verità vor über 100 Jahren hat das kaum jemand versucht. Ein wahrhaftigeres Leben war das Ziel ihres einzigartigen Experiments. Doch man blieb unter sich. Bleibende Impulse gingen von dem lebensreformerischen Projekt nicht aus. Und nach 20 Jahren gaben die Sinnsucher auf und verließen den Berg. Das Festival aber soll auch im kommenden Jahr den Monte Verità wieder in den Blickpunkt rücken. Joachim Sartorius will dann jedoch andere Akzente setzen.
"Was ich mir vorstellen könnte, dass man bei kommenden Ausgaben zum Teil stärker künstlerische Utopien nimmt, also alles, was mit Gesamtkunstwerk zu tun hat. Vielleicht kann man auch mal über private Utopien sprechen. Das finde ich auch ein spannendes Thema."
Und womöglich wird auf diese Weise das Publikum etwas zahlreicher als in den zurückliegenden Tagen auf den berühmten Berg gelockt. Es wäre dem Festival zu wünschen.