Autorin: Sonja Hartl
Sprecherinnen: Veronika Bachfischer, Bettina Kurt, Ilka Teichmüller
Regie: Beatrix Ackers
Ton: Martin Eichberg
Redaktion: Dorothea Westphal
Wiederholung vom 19.07.2019
"Manchmal verwechsle ich meine Bücher und meine Kinder"
29:14 Minuten
Die Romane von Anke Stelling haben wesentlich dafür gesorgt, dass Mutterschaft als Thema in der Literatur wahrgenommen wird. Es wird in vielen Büchern verhandelt – mit allen Ambivalenzen und Klischees. Doch wie lassen sich Kinder und Schreiben vereinbaren?
"Natascha hatte im zeitigen Frühling des Jahres 1813 geheiratet und besaß im Jahre 1820 schon drei Töchter und einen Sohn, den sie sich brennend gewünscht hatte und jetzt selber nährte. Sie war voller und breiter geworden, sodass man in dieser kraftstrotzenden Mutter nur schwer die früher so schlanke, biegsame Natascha wiedererkennen konnte." (Aus "Krieg und Frieden" von Leo Tolstoi)
Die Schriftstellerin Anke Stelling sagt: "Mein Leben - also, ich kann mir nicht vorstellen, wie es verlaufen wäre, wenn ich keine Kinder bekommen hätte."
Das permanente Thema Kinder
"Mutterschaft ist auf jeden Fall für mich etwas, an dem ich mich ständig abarbeiten muss", sagt die Literaturwissenschaftlerin Berit Glanz und spricht damit für die meisten Frauen:
"Ich glaube, dass es einfach eine Dekade gibt im Leben vieler Frauen, in der eben auch das Thema Kinder permanent von außen an sie herangetragen wird. Also zwischen 30 und 40 ungefähr in Deutschland, würde ich sagen, muss man sich zu diesem Thema verhalten. Man bleibt da als Frau nicht verschont von oder als Mensch, der gebären kann."
Trotzdem ist Mutterschaft mit all den Schwierigkeiten und Widersprüchen, die damit zusammenhängen, zwar seit Beginn der Frauenbewegung immer mehr zum Thema geworden, literarisch aber befassen sich Autorinnen erst seit einigen Jahren damit.
Berit Glanz sagt: "Es gibt einfach Themen, die man fiktional bearbeiten kann, Trauer, Einsamkeit und so weiter, und ich glaube, Mutterschaft und diese spezielle Beziehung, die man hat zu seinem Kind, gehörte da lange nicht dazu."
Böse und kalte Mütter
Zuvor waren Mutterfiguren meist Nebenfiguren. Mutterschaft charakterisierte eine Frauenfigur, die Erfüllung der Mutterrolle galt als Bewertungsmaßstab für die Figur. Das zeigt sich selbst bei berühmten literarischen Frauenfiguren.
Das können böse Mütter sein wie die Stiefmutter in Grimms Märchen "Hänsel und Gretel". Dieser jahrhundertealte Topos der bösen Mutter oder Stiefmutter wirkt bis in die Gegenwart in den unzufriedenen Mutterfiguren nach, die ihren Kindern das Leben schwer machen, weil sie in der Mutterschaft nicht das erhoffte erfüllte Leben finden.
Ein weiterer verbreiteter, sehr faszinierender Muttertyp mit langer literarischer Tradition ist die kalte Mutter. Flauberts Madame Bovary oder Gerda Buddenbrook gehören dazu. Letztere wollte ursprünglich gar nicht heiraten und hatte kein Interesse an Kindern, sondern lebte für die Musik. In ihr ist ein Widerspruch angelegt, den Schriftstellerinnen später vielfältig aufgreifen werden: Wie lassen sich Mutterschaft und Kunst vereinbaren?
Autorinnen erforschen Mutterschaft
Seit der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren erscheinen immer mehr Romane, in denen die Erfahrung von Mutterschaft im Mittelpunkt steht und eine Frauenfigur nicht mehr danach bewertet wird, wie sie ihre Mutterrolle ausfüllt.
Die Bücher von Anke Stelling, die 2019 für ihren Roman "Schäfchen im Trockenen" den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat, haben wesentlich dazu beigetragen, dass Mutterschaft als Thema in der Literatur wahrgenommen wird.
Die Schriftstellerin Isabelle Lehn meint dazu: "Es gibt verschiedene Konzepte von Familie inzwischen, die in der Literatur gerade auch erzählt und verhandelt werden. Neue Formen von Mutterschaft, vielleicht mit einem Transmann, wie es bei Maggie Nelson ist."
Zu dieser Entwicklung habe beigetragen, dass immer mehr Schriftstellerinnen autofiktionale Romane schrieben. In "Frühlingserwachen" erzählt sie von einer Schriftstellerin gleichen Namens, die unter anderem mit ihrer Kinderlosigkeit hadert.
"Was mir auffällt, ist, dass es Literatur gibt, die wie eine Art Selbstgespräch der Frauen fungiert, eine Selbstvergewisserung, ein Hinterfragen von eigenen Wünschen und Positionen, und ich glaube, dass das schon was Neues ist, dass das als relevant betrachtet wird, dass das ernst genommen wird, dass das als veröffentlichungswürdig betrachtet wird und nicht als Menstruationsprosa abgetan."
Die kanadische Autorin Sheila Heti befragt in ihrem Buch eine Art Orakel, setzt sich mit potenziellen Konsequenzen von Kinderlosigkeit auseinander und beantwortet die Frage letztlich für ihre Erzählerin, aber nicht für ihre Leserinnen:
"Es gibt einfach keinen richtigen Weg für eine Frau: Wenn man Karriere macht und ein Kind hat, wird man dafür kritisiert, dass man dem Kind nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt. Und wenn man keine Karriere macht, wird man dafür kritisiert, dass man keine Karriere macht. Egal, was eine Frau macht, sie wird dafür kritisiert werden."
Wer kriegt Kinder, wer kriegt Bücher?
Für Schriftstellerinnen, für die Karriere bedeutet, Bücher zu veröffentlichen, gilt das ebenso, meint die Schriftstellerin Anke Stelling:
"Ich habe jetzt gerade in einem Roman von Isabelle Lehn gelesen, da geht es darum, nach dem Studium, wer kriegt Kinder und wer kriegt Bücher? Und das ist ganz interessant, weil ich habe gemerkt, dass mir das ganz nah ist. Also, dass ich meine Kinder und meine Bücher auch manchmal ein bisschen verwechsle."
Die Vorstellung von Büchern, die wie Kinder sind, die statt Kindern geboren werden, ist eng verknüpft mit dem hartnäckigen Vorurteil, dass Kinder und das Schreiben von Romanen nicht zusammengehen. Berühmt-berüchtigt zusammengefasst in dem Rat, den Marcel Reich-Ranicki einst Judith Herrmann gab: Sie solle niemals Kinder bekommen, sonst würde sie aufhören, Romane zu schreiben.
"Hier scheint alles so zerrissen"
Kinder zu haben, das passte lange nicht zum Bild eines Schriftstellers – oder einer Schriftstellerin. Doch das ändert sich, indem Autorinnen über dieses Klischee schreiben. Und indem sich Autorinnen literarisch mit den verschiedenen Aspekten von Mutterschaft befassen, werden auch diese Strukturen sichtbar.
"Es tut mir leid, dass hier alles so zerrissen scheint. Doch ich bin, wer ich bin, und ich werde nicht mehr so tun, als hätte ich dieselben Voraussetzungen wie, sagen wir mal, Martin Walser." (Aus "Schäfchen im Trockenen" von Anke Stelling)
Denn Resi hat drei Kinder, um die sie sich kümmern muss. Und damit geht allerhand Alltägliches einher, dem lange Zeit in der Literatur wenig Platz eingeräumt wurde.
"Doch bevor ich mir den Verlust meiner Wohnung und die Existenz meiner Kinder selbst zuschreiben kann, muss ich erst noch rasch Abendessen machen, Brotdosen abwaschen, Schulranzen kontrollieren, Fingernägel schneiden, rumbrüllen, diverse Absprachen durchsetzen und Ansprachen halten, ein bisschen vorlesen, dann das Zähneputzen beaufsichtigen, lieber noch mal nachputzen und hinterher die Zahnpastatuben zudrehen, Handtücher aufhängen und erneut rumbrüllen. Mich dafür entschuldigen, dass ich gebrüllt habe, die in die Ecken gepfefferten Kleidungsstücke aufheben und zusammenlegen, die klumpigen Decken aufschütteln und gewünschten Wassergläser reichen und natürlich Kuscheltiere suchen und Gutenachtküsse geben."
In diesem Auszug zeigen sich die schwierigen Bedingungen, unter denen eine Frau, die Kinder hat, häufig schreiben muss. Bereits 1929 hatte Virginia Woolf in "Ein Zimmer für sich allein" gefordert:
"Eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können."
Die Autorin Deborah Levy meint dazu:
"Virginia Woolf war sehr pragmatisch. Sie hat den Frauen ihrer Generation einen guten Rat gegeben: ein eigenes Zimmer zu finden. Wenn man bedenkt, dass Jane Austen ihre Romane im Wohnzimmer geschrieben hat, in dem ständig Menschen ein- und ausgegangen sind."
Und heute? Wurde dieser Ratschlag umgesetzt? Eher nicht, findet Anke Stelling:
"Wenn ich mal so kurz überlege, wer in den Wohnungen, die ich kenne, ein Arbeitszimmer hat und wer nicht, wer vielleicht überhaupt ein eigenes Zimmer hat und wer nicht, dann ist es erschreckend, wie ungleich das immer noch verteilt ist."
Mehr Diversität in der Literatur
Die praktischen Forderungen nach einem eigenen Zimmer und Auskommen sind also weiterhin aktuell.
"Wir brauchen diversere Stimmen. Ich glaube, wir müssen über Strukturen nachdenken und müssen darüber nachdenken, wie Strukturen des Literaturbetriebs und der Literaturvermarktung bestimmte Stimmen ausschließen und bestimmte Stimmen verstärken", sagt die Literaturwissenschaftlerin Berit Glanz.
Was die Arbeitsbedingungen für Schriftstellerinnen mit Kindern sowie Konzepte von Literaturförderung angeht, muss sich also einiges ändern.
Was das Thema Mutterschaft betrifft, so ist durch die literarische Auseinandersetzung ein komplexerer Blick darauf möglich geworden. Das ist wichtig, da die Frage nach Mutterschaft als die "Mutter aller Fragen" eine gesellschaftliche ist, die die Identität einer Frau prägt. Und doch ist die Tatsache, dass eine Frau Kinder hat oder nicht, nur ein Aspekt unter vielen, die sie als Frau und Mutter ausmachen.
(DW)