Die fünf für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis nominierten Bücher zeigen die ganze Formenvielfalt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Auf der Shortlist stehen:
- Ulrike Edschmid: Die letzte Patientin, Suhrkamp 2024
- Roman Ehrlich: Videotime, S. Fischer Verlag 2024
- Maren Kames: Hasenprosa, Suhrkamp 2024
- Judith Kuckart: Die Welt zwischen den Nachrichten, DuMont 2024
- Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne, Luchterhand 2024
Ulrike Edschmid hat mit „Die letzte Patientin“ einen hoch konzentrierten, verdichteten, stilistisch ausgefeilten Roman geschrieben, der auf diese Weise eine Sprache gefunden hat, um über Traumatisierung, Sprach- und Bindungslosigkeit zu erzählen.
Kaum größer könnte der Kontrast zu einem Roman wie „Hasenprosa“ von
Maren Kames sein, die man bislang vor allem als Lyrikerin wahrgenommen hat.
„Hasenprosa“ ist ein Roman, der aber durchaus mit lyrischen Mitteln arbeitet - mit Reimen, Gleich- und Ähnlichklängen, mit assoziativen Sprüngen, die sich aus dem Klang, aus dem Wortmaterial selbst ergeben. Zugleich ist „Hasenprosa“ ein Familienroman, der auf quecksilbrige Weise die altbekannten Erzählweisen über Bord schmeißt.
Saša Stanišićs „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ ist vordergründig leichthändig erzählt, voller Humor, aber dabei von großer gesellschaftspolitischer Relevanz, wenn es etwa um die Logiken des Verdachts geht, denen Jugendliche mit migrantischen Familiengeschichten immerzu ausgesetzt sind.
Zugleich formuliert Stanišićs Buch – ganz im frühromantischen Sinne - eine literarische Utopie: dass Literatur die Welt oder zumindest das eigene Leben poetisieren, in etwas Besseres verwandeln kann.
Judith Kuckart wiederum hat mit „Die Welt zwischen den Nachrichten“ eine Art Memoire geschrieben, das zugleich ein Stück Nachkriegsgeschichte erzählt und vor allem die Frage stellt: Welche Wege nehmen - unter welchen Bedingungen - weibliche Biografien?
Dass Judith Kuckart nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Tänzerin und Choreografin ist, schlägt sich in ihrem Schreiben nieder: Da werden die verschiedenen Stränge und Motive auf sehr musikalische Weise miteinander verflochten.
Ganz und gar eigenwillig, im besten Sinne verstörend ist der Roman „Videotime“ von
Roman Ehrlich. Da kommt der Erzähler zurück in sein bayerisches Herkunftsstädtchen und erinnert sich an sein Aufwachsen dort, das bestimmt war durch das Schauen von Videofilmen, vor allem Horrorfilmen.
Diese Filme werden geradezu akribisch erinnert und dem äußerlich ereignisarmen Alltag des Jungen entgegengesetzt. In einem faszinierenden Überblendungseffekt erscheint dieser Alltag immer mehr selbst wie ein Horrorszenario.
Zugleich zeigt Roman Ehrlich, mit was für Bildern, mit was für Körperbildern, mit welchen Vorstellungen von Normalität und Gewalt eine Mediengeneration sozialisiert wurde.
Mit 30.000 Euro Preisgeld gehört der Wilhelm Raabe-Literaturpreis zu den bedeutendsten literarischen Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum. Der Preis wird jährlich von den Kooperationspartnern Deutschlandfunk und der Stadt Braunschweig vergeben. Mit dem Preis werden ein in deutscher Sprache verfasstes erzählerisches Werk gewürdigt. Alleiniges Vorschlagsrecht hat die Jury.
Die Jury des Wilhelm Raabe-Literaturpreises besteht aus neun Personen und setzt sich in diesem Jahr zusammen aus Prof. Dr. h. c. Gerd Biegel (Präsident der Internationalen Raabe-Gesellschaft e.V.), Dr. Hanna Engelmeier (UdK Berlin), Thomas Geiger (Literaturvermittler), Samuel Hamen (freier Literaturkritiker), Prof. Dr. Anja Hesse (Dezernentin für Kultur und Wissenschaft der Stadt Braunschweig), David Hugendick ("Die Zeit" und "Zeit online"), Dr. Michael Schmitt (3sat), Prof. Dr. Julia Schöll (Institut für Germanistik, TU Braunschweig) und Dr. Wiebke Porombka (Deutschlandfunk).
Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2024 wird am Sonntag, den 3. November, um 11.00 Uhr im Kleinen Haus des Staatstheaters in Braunschweig verliehen. Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur berichten ausführlich über Preis und Preisverleihung. Auf dem Digitalkanal Deutschlandfunk Dokumente und Debatten (Dlf DokDeb) wird die Preisverleihung live übertragen.