Literatur zum Selberbauen
Mit dem Lexikon-Roman stellte Andreas Okopenko 1970 den ersten Hypertext in Buchform vor, lange bevor es das Internet gab. Als klassischer chronologischer Roman ist das Werk auch kaum lesbar. Der Autor stellt die Handlungsanweisung voran, man möge sich seinen eigenen Roman aus dem gegebenen Material zusammenbauen. Lebendige Figuren schafft man so jedoch nicht.
Der "Lexikon Roman" ist ein Klassiker der österreichischen Literatur-Avantgarde aus dem Jahr 1970. Sein Verfasser Andreas Okopenko hat auf eine durchgängige chronologische Handlung und einen fortlaufenden Text verzichtet. Stattdessen stellt er mit alphabetisch geordneten Stichworten und Querverweisen nach Lexikon-Manier überbordende Requisiten für einen Roman zur Verfügung, den sich der Leser selbst zusammenbasteln muss: "Das Material liegt bereit, wie die Donau und die Anhäufung von Pflanzen, Steinen und Menschen an ihren Ufern für viele Reisen und Nebenausflüge nach Wahl bereitliegen" heißt es in der vorangestellten Gebrauchsanweisung. Auch auf der letzten Seite des Buches wendet sich Okopenko noch mal an seine Leser:
"Sie selbst müssen dieses Buch erst zum Roman machen. Im neuen Theater spielt das Publikum mit. Warum nicht im neuen Roman?"
Es weht ein Hauch von 68er Anarchie und Freiheit über diesem "neuen Roman". Das betrifft vor allem die Auflösung von Hierarchien innertextlicher Art (keine Chronologie, kein einheitlicher Erzähler, kein Handlungsbogen), aber auch die aktive Einbeziehung des Lesers. Und insofern passt es gut, dass die jetzige Wiederveröffentlichung des Romans zum 40-jährigen Jubiläum der 68er erfolgt.
Die beschriebene "Sentimentale Reise zum Exporteurtreffen in Druden" hat laut Angaben im Text zudem tatsächlich 1968 stattgefunden, und zwar an einem Junitag des betreffenden Jahres. Den sich aufdrängenden Vergleich mit dem Bloom-Tag im "Ulysses" schmettert Okopenko unter dem Stichwort Joyce ab: Es gehe ihm (Okopenko) eben nicht "um ein Denkkontinuum, sondern um ein Weltmodell-Diskontinuum". Sicher nicht zufällig hat er den Titel seines Romans von Laurence Sterne entliehen. Dessen Niederschrift einer Reise durch Italien und Frankreich "A Sentimental Journey" erfolgte genau 200 Jahre früher (1768).
Andreas Okopenko (als Sohn eines Ukrainers und einer Österreicherin 1930 im slowakischen Kaschau geboren, aufgewachsen in Wien) zielt in seinem Werk auf die "Darstellung von Realität in möglichst konkreter Weise". Zu diesem Zweck setzt er Werbeslogans neben Rezepte, Bedienungsanleitungen neben Kinoprogramme, chemische Gleichungen neben politische Betrachtungen. Nur vordergründig geht es um den Chemiekaufmann J., der sich auf einem Schiff über die Donau in den Ort Druden begibt- ein Ort, der nebulös bliebt genau wie die Ereignisse dieser Reise. Viel wichtiger sind die Nebenwege, die Abzweige, die vielen Möglichkeiten, die das Leben und damit auch dieses Buch bereitstellt.
Einerseits bildet Okopenkos Mikromodell Welt viele naturwissenschaftliche oder technische Dinge ab (Stichworte wie "Eutonignale" oder "Element X22"), andererseits finden sich nonsenshafte Einträge wie Edelnaschwerk 1 (bis hin zu "Edelnaschwerk 5") und neun Einträge zum "WC" (Toilette).
Dieser Roman habe "die Ordnung einer Jam Session" - heißt es an einer Stelle. Eine Jam-Session, möchte man hinzufügen, die blutleer und oft quälend ausufernd klingt. Auf dem Papier funktioniert dieser Roman nicht wirklich, wenn man brav Seite für Seite liest. Geeigneter scheint die Version als Hyper-Text auf CD-Rom, die vor einigen Jahren erschienen ist und bei der der Leser nach Belieben Stichworte herauspicken kann und so seinen eigenen Roman kreiert. Zum Leben erweckt werden die Figuren allerdings dadurch nicht.
"Wie man aus einem Requisitenkabinett einen Mensch macht, das sei das fatale Problem dieses Lexikon-Roman", gibt der Autor im Buch selbst zu. Schwer zu verdauen sind last not least auch die sexistischen, teilweise fast misogynen Passagen im Roman. Okopenkos "Mädchen- und Dicke-Damen-Kult" irritiert und stößt ab, wäre heutzutage kaum denkbar. Mit 68er Freiheit hat das wenig zu tun.
Rezensiert von Olga Hochweis
Andreas Okopenko: Lexikon Roman. Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden
Deuticke, Wien 2008
384 Seiten für 24,90 Euro
"Sie selbst müssen dieses Buch erst zum Roman machen. Im neuen Theater spielt das Publikum mit. Warum nicht im neuen Roman?"
Es weht ein Hauch von 68er Anarchie und Freiheit über diesem "neuen Roman". Das betrifft vor allem die Auflösung von Hierarchien innertextlicher Art (keine Chronologie, kein einheitlicher Erzähler, kein Handlungsbogen), aber auch die aktive Einbeziehung des Lesers. Und insofern passt es gut, dass die jetzige Wiederveröffentlichung des Romans zum 40-jährigen Jubiläum der 68er erfolgt.
Die beschriebene "Sentimentale Reise zum Exporteurtreffen in Druden" hat laut Angaben im Text zudem tatsächlich 1968 stattgefunden, und zwar an einem Junitag des betreffenden Jahres. Den sich aufdrängenden Vergleich mit dem Bloom-Tag im "Ulysses" schmettert Okopenko unter dem Stichwort Joyce ab: Es gehe ihm (Okopenko) eben nicht "um ein Denkkontinuum, sondern um ein Weltmodell-Diskontinuum". Sicher nicht zufällig hat er den Titel seines Romans von Laurence Sterne entliehen. Dessen Niederschrift einer Reise durch Italien und Frankreich "A Sentimental Journey" erfolgte genau 200 Jahre früher (1768).
Andreas Okopenko (als Sohn eines Ukrainers und einer Österreicherin 1930 im slowakischen Kaschau geboren, aufgewachsen in Wien) zielt in seinem Werk auf die "Darstellung von Realität in möglichst konkreter Weise". Zu diesem Zweck setzt er Werbeslogans neben Rezepte, Bedienungsanleitungen neben Kinoprogramme, chemische Gleichungen neben politische Betrachtungen. Nur vordergründig geht es um den Chemiekaufmann J., der sich auf einem Schiff über die Donau in den Ort Druden begibt- ein Ort, der nebulös bliebt genau wie die Ereignisse dieser Reise. Viel wichtiger sind die Nebenwege, die Abzweige, die vielen Möglichkeiten, die das Leben und damit auch dieses Buch bereitstellt.
Einerseits bildet Okopenkos Mikromodell Welt viele naturwissenschaftliche oder technische Dinge ab (Stichworte wie "Eutonignale" oder "Element X22"), andererseits finden sich nonsenshafte Einträge wie Edelnaschwerk 1 (bis hin zu "Edelnaschwerk 5") und neun Einträge zum "WC" (Toilette).
Dieser Roman habe "die Ordnung einer Jam Session" - heißt es an einer Stelle. Eine Jam-Session, möchte man hinzufügen, die blutleer und oft quälend ausufernd klingt. Auf dem Papier funktioniert dieser Roman nicht wirklich, wenn man brav Seite für Seite liest. Geeigneter scheint die Version als Hyper-Text auf CD-Rom, die vor einigen Jahren erschienen ist und bei der der Leser nach Belieben Stichworte herauspicken kann und so seinen eigenen Roman kreiert. Zum Leben erweckt werden die Figuren allerdings dadurch nicht.
"Wie man aus einem Requisitenkabinett einen Mensch macht, das sei das fatale Problem dieses Lexikon-Roman", gibt der Autor im Buch selbst zu. Schwer zu verdauen sind last not least auch die sexistischen, teilweise fast misogynen Passagen im Roman. Okopenkos "Mädchen- und Dicke-Damen-Kult" irritiert und stößt ab, wäre heutzutage kaum denkbar. Mit 68er Freiheit hat das wenig zu tun.
Rezensiert von Olga Hochweis
Andreas Okopenko: Lexikon Roman. Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden
Deuticke, Wien 2008
384 Seiten für 24,90 Euro