Wahlprogramme - sprachlich und inhaltlich ein eher spröder Stoff. Oder steckt da doch mehr drin? Wir haben Literaturkritiker und Autoren gebeten, die Pamphlete einmal gründlich durchzuackern und nach literarischen Kriterien zu bewerten. Das Programm der Linkspartei wurde als erstes besprochen. Die weiteren Termine: Dienstag FDP (Ursula März), Mittwoch AfD (Thorsten Jantschek), Donnerstag SPD (Mathias Greffrath), Freitag CDU/CSU (Sieglinde Geisel), Samstag Grüne (Paul Stänner). Die Rezensionen können Sie jeweils gegen 8.50 Uhr hören.
Der Leersprech der satten Sieger
In einer neuen Serie kämpfen sich unsere Literaturkritiker durch die Wahlprogramme der Parteien. Sieglinde Geisel kritisiert den Leersprech im Wahlprogramm der CDU/CSU: Alles zweimal sagen, dafür ohne Inhalt.
Die CDU ist seit zwölf Jahren Regierungspartei, und das merkt man dem Wahlprogramm an. Hier sprechen die Sieger: Das Land ist satt, und das Land ist zufrieden, so das Narrativ – das genau deswegen keines ist. Auf 77 Seiten schreitet dieses Wahlprogramm in die Zukunft, doch diese Zukunft bringt mehr vom Selben. Man merkt es an den Verben: Sie haben keinen eigenen Drive, sondern schieben lediglich Substantive vor sich her. Ständig wird etwas "verbessert", "ausgebaut", "weiterentwickelt", "fortgesetzt" oder auch nur "beibehalten", doch auch das, was da jeweils verbessert oder ausgebaut werden muss und soll, entfaltet sprachlich keine Kraft.
Man sieht nichts in diesem Text: Weder Dinge, noch Menschen. Statt dessen werden wir mit Abstrakta traktiert: "Maßnahmen zur Schaffung einer neuen Strukturperspektive", "Vereinheitlichung der Übertragungsnetzentgelte", "flächendeckende Verfügbarkeit von Leistungen der Daseinsvorsorge".
Redundanz entzieht dem Leser Energie
Trotz des Zukunftsoptimismus, den der Text verströmen will, entzieht er einem beim Lesen Energie. Dazu tragen auch die redundanten Adjektive bei: Werden im Wahlprogramm der CDU Weichen gestellt, dann stets "konsequent", man verfolgt ein "erklärtes" Ziel, wendet sich gegen "offenkundige" Missstände, nimmt "notwendige" Reformen in Angriff und kann "große" Erfolge verbuchen. Auch die vielen "und"-Verbindungen schwächen den Text: "Krisen und Konflikte", "Sicherheit und Stabilität", "Instabilität und Ungewissheit", "große und existenzielle Fragen". Das sagt sich fast von selbst, und dieses Muster durchwirkt denn auch den ganzen Text.
"Auch und gerade im digitalen Zeitalter und im Zeitalter der Globalisierung" – so funktioniert Leersprech: Man sagt alles doppelt, dafür ohne Inhalt. Obwohl eigentlich nichts Kronkretes drinsteht, liest sich der Text so anstrengend, als würde darin tatsächlich Masse bewegt. Dies liegt am Satzbau. Über weite Strecken hinweg reiht sich ein Hauptsatz an den anderen. Im Hauptsatz gibt es nur ein einziges Verb, und das ist gefordert, denn es muss alle Substantive alleine schultern, samt ihren Begleitern. Das klingt dann etwa so: "Mit Angela Merkel als Kanzlerin und unter der politischen Verantwortung der Union hat unser Land im zurückliegenden Jahrzehnt große Herausforderungen national und international erfolgreich bewältigt."
Nur selten konkrete Substantive
Nur ganz selten bemühen sich die Autoren um Schönheit, und wenn, dann geht es meistens schief. "Ein gutes Land in dieser Zeit", so heißt ein Titel. Aus "kein schöner" mach "ein gutes" – weder dem Land noch dem Lied tut man damit einen Gefallen. Dass an diesem Text viele Autoren mitgekocht haben, merkt man dann, wenn doch etwas fasslich wird. Dann erschrickt man, so groß ist die Überraschung: "Nirgendwo werden mehr Bücher geschrieben und gelesen als bei uns." "Digitalisierung ist Chefsache." Geht doch, denkt man.
Manchmal verirrt sich sogar das eine oder andere konkrete Substantiv in den Text: "Deutschland als Stabilitätsanker in der Welt", das ist zwar redundant, aber immerhin sehen wir einen Anker. "Wir wollen, dass den Betrieben mehr Zeit für Stall und Acker bleibt", so im Landwirtschaftskapitel. Wir sehen etwas – und dann sehen wir doch wieder nichts, denn es sind ja nicht die Betriebe, die ihre Zeit in Stall und Acker verbringen. Die Bildernot muss groß sein, wenn am Ende gar der Evergreen aller CDU-Rhetorik ausgegraben wird (leider durch eine der beliebten "und"-Konstruktionen gleich wieder geschwächt): "In den neuen Bundesländern sind seit der Deutschen Einheit vielerorts blühende Landschaften und zukunftssichere Arbeitsplätze entstanden."