Literaturanalyse: Wahlprogramm der SPD

Wie im Katalog – für jeden was dabei

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Familie Neumann auf der Suche nach Wunschobjekten. © imago/Ulrich Hässler
Von Mathias Greffrath |
In einer neuen Serie kämpfen sich unsere Literaturkritiker durch die Wahlprogramme der Parteien. Mathias Greffrath stellt fest: Die 110 Seiten des SPD-Programms sind ein Gemischtwarenangebot, das in seinen Details vage bleibt.
"Diese Wahlen sind eine grundsätzliche Entscheidung darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen" - so dramatisch beginnt das SPD-Programm. Angesichts der multiplen Krisen - Klima, Digitalisierung, Migration, Pflegenotstand, Europazerfall, Verteilungsunrecht, Bildungsarmut - passt solche Radikalität zu der beunruhigenden Ahnung, dass man nicht weiß, wie lange es noch gut geht. Aber auf diesen 110 Seiten regiert im Ganzen die Verleugnung: Angesichts der Tatsache, dass uns alle diese Krisen in einer Epoche nachhaltig schrumpfenden Wachstums treffen, wären grundsätzliche Veränderungen angesagt. Hier aber kommt fast auf jeder dritten Seite das Wörtchen "weiterhin" vor.

Wünsche, keine finanzierten Projekte

Weiterhin für alle immer noch etwas mehr: noch bessere Schulen, noch bessere Pflege, noch mehr Geld für die Künste. Und weiter: tierfreundliche Massentierhaltung, bezahlbare Mieten, Zahnersatz für alle, längere Lebensdauer für Staubsauger, mehr Geld für die Filmförderung, Wiedergutmachung für Namibia, Geschlechtergerechtigkeit in der Kunst - es ist ein Gemischtwarenangebot, das von allen nur denkbaren Interessengruppen und Arbeitsgemeinschaften zusammengeklebt erscheint, aber in fast allen Details vage bleibt: Genossenschaften sollen gestärkt, Wagniskapital und städtische Wohnungen bereitgestellt, Mindestausbildungsvergütung und Bafög angehoben, der Personalschlüssel in der Pflege verbessert werden - aber nirgendwo werden konkrete Zahlen oder Ziele genannt, und das Wörtchen "schrittweise" verrät: Es handelt sich bei all dem um Wünschbarkeiten, nicht um finanzierte Projekte.
Überall Unentschiedenheit: Ausbau der Fernbusse, aber auch der Bahn und der Radwege, konventionelle und biologische Landwirtschaft. Hinter dem großen Wort allgemeine Bürgerversicherung verbirgt sich wenig mehr als eine Abschaffung der Arbeitnehmerzuzahlung; Beamtenprivileg und private Krankenversicherungen bleiben unangetastet, die Lücken werden weiterhin aus den Massensteuern der Lohnabhängigen gedeckt. Bizarr auch das vollmundige Bekenntnis zum Asylrecht auf europäischem Boden - bei gleichzeitiger Einrichtung von Beratungsstellen entlang der Fluchtrouten, um den Flüchtenden "Alternativen aufzuzeigen".

Wie die Partei, so das Programm: Konforme Vagheit

Alles kommt vor, und kein zündendes Bild des Ganzen stellt sich ein. Eine wirkliche Alternative zur großen Koalition der Weitermacher aber müsste wirklich große Veränderungen propagieren, und sei es, um kraftvoll in die Opposition zu gehen. Um nur einiges vorzuschlagen: eine Entkoppelung von Sozialsystem und Beiträgen auf Arbeit; ein Verbot weiterer Privatisierungen von öffentlichem Eigentum; eine Deckelung der Bodenpreise, um die Existenz von Kleinbauern und das Leben in Städten zu ermöglichen; ein Ende des absurden Bildungsföderalismus. Oder, um ein wenig mit Zahlen zu träumen: eine Verdoppelung der Lehrerzahlen, finanziert durch eine einprozentige Vermögenssteuer.
Dieses Programm in seiner konformen Vagheit drückt ziemlich umfassend den Zustand der Partei aus: die SPD besteht im Kern, so die Parteienforscher, aus 80.000 "ämterorientierten Aktiven": Kommunalbeamten, Krankenkassenabteilungsleitern, Sparkassenaufsichtsräten, Gewerkschaftsfunktionären, Bezirksstadträten usw. - kurzum: aus Mittelschichtlern, die auf allen Ebenen das Rückgrat des Staates bilden, ohne die nichts läuft, die von ihm leben, so wie er jetzt ist. "Grundsätzliche" Richtungsänderungen sind von ihnen kaum zu erwarten. "Weniger Euphorie wagen", so empfahl es der ehemalige Vorsitzende Platzeck dem jetzigen. Und so klingt das Programm.

Wahlprogramme - sprachlich und inhaltlich ein eher spröder Stoff. Oder steckt da doch mehr drin? Wir haben Literaturkritiker und Autoren gebeten, die Pamphlete einmal gründlich durchzuackern und nach literarischen Kriterien zu bewerten. Das Programm der Linkspartei wurde als erstes besprochen. Die weiteren Termine: Dienstag FDP (Ursula März), Mittwoch AfD (Thorsten Jantschek), Donnerstag SPD (Mathias Greffrath), Freitag CDU (Sieglinde Geisel), Samstag Grüne (Paul Stänner). Die Rezensionen können Sie jeweils gegen 8.50 Uhr hören.

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