Literaturbegeisterter Mensch und nichtreligiöser Jude

Von Matthias Bertsch |
Marcel Reich-Ranicki kam 1958 in die Bundesrepublik - mit der großen Liebe zur deutschen Literatur im Gepäck. Nun ist er gestorben. Aber nicht der Literaturkritiker steht hier im Fokus unserer Erinnerung, sondern der Mensch und Jude Reich-Ranicki.
"Was sind Sie denn nun eigentlich – ein Pole, ein Deutscher oder wie?" Mit diesen Worten wurde Marcel Reich-Ranicki im Herbst 1958, kurz, nachdem er aus Polen in die Bundesrepublik übergesiedelt war, von Günter Grass bei einem Treffen der "Gruppe 47" begrüßt. Seine Antwort lautete: "Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganz Jude." Ein "schönes Bonmot", schrieb er in seiner Autobigrafie "Mein Leben", doch nichts daran stimmte. "Nie war ich ein halber Pole, nie ein halber Deutscher – und ich hatte keinen Zweifel, dass ich es nie werden würde. Ich war auch nie in meinem Leben ein ganzer Jude, ich bin es noch heute nicht."

"Mein Leben" ist noch heute ein spannendes und bewegendes Buch, das Marcel Reich-Ranicki sichtbar macht. Als Menschen und als Juden - allerdings nicht im religiösen Sinne, Religion bedeutete ihm zeit seines Lebens kaum etwas. Das Polnische blieb ihm trotz oder wegen seines polnischen Vaters fremd. Die deutsche Sprache und Literatur dagegen kannte und liebte er. Und wenn man seinen Erzählungen Glauben schenken kann, dann wurde ihm diese Liebe von seiner assimilierten deutschen Mutter eingepflanzt, die ihn nicht nur von klein auf mit deutscher Literatur versorgte.

Lebenslange Angst vor deutscher Barbarei
Doch wie seine Liebe zur Sprache hat ihn, auch das schreibt er in seiner Autobiografie, die Angst vor der deutschen Barbarei sein Leben lang begleitet. Die Angst vor dem deutschen Rohrstock, mit dem an seinem ersten Schultag in Berlin ein Schulkamerad gezüchtigt wurde, die Angst vor den deutschen Konzentrationslagern und der deutschen Gaskammer. Fast seine ganze Familie wurde im Holocaust ermordet, er selbst und seine Frau überlebten in einem Keller des Warschauer Gettos.

Wie stark ihn diese Zeit – als Mensch und als Jude - geprägt hat, wurde Jahrzehnte später deutlich: zunächst im Historikerstreit und dann in der Paulskirchenrede Martin Walsers, in der dieser seinen Wunsch äußerte, nicht ständig an die Verbrechen des "Dritten Reiches" erinnert zu werden. Die Rede Walsers hat Marcel Reich-Ranicki tief getroffen und dennoch hat er seine Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren, nicht bereut. Der Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal des Warschauer Gettos – dort, wo er seine Eltern das letzte Mal gesehen hat - war ihm immer wichtiger als alle Relativierungen des Nationalsozialismus.

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