"Was bedeutet es, Polen zu sein?"
Auf der Buchmesse und dem Joseph-Conrad-Literaturfestival in Krakau wird die literarische Welt Polens lebendig. Die auch in Deutschland bekannte Autorin Olga Tokarczuk zeigt in ihrem neuen Roman "Jakobs Brüder", wie multikulturell Polen ist - und dass die Vergangenheit nicht Geschichte ist.
Die Turmmusik ist unverwechselbar. Wir sind in Krakau! Seit einem Jahr ist Krakau offiziell Literaturstadt der UNESCO. Beigetragen haben dazu die lange Tradition des hiesigen Buchbetriebs, die bis zurück ins Mittelalter führt, eine blühende Verlagsszene, viele berühmte Autoren, die hier gewohnt haben oder noch wohnen, und die Liebe der Krakauer zum – auch geschriebenen – Wort.
Ihre Verdienste hat hierbei auch die "Piwnica pod Baranami", auf Deutsch: der "Keller zu den Widdern", eine kleine Kunstbühne, die bereits zur Zeit der Liberalisierungspolitik unter Władysław Gomułka im Jahre 1956 entstand. Gegründet von Studenten der Krakauer Kunstakademien, präsentierte sie in Form eines literarischen Kabaretts alles, was die Gesellschaft politisch und kulturell bewegte. Die Kult gewordene "Piwnica pod Baranami" tut das seit beinahe sechzig Jahren.
"Es ist eine wichtige Literatureinrichtung! Von hier aus zieht eine Poesie- und Prosawolke über Krakau. Hier und in der ganzen Stadt wird Literatur geschaffen! Es ist beflügelnd und inspirierend,"
sagt Jolanta Rzegocka, Literaturwissenschaftlerin.
Autoren denken über Globalisierung nach
Im ehemaligen Adelspalais "Pod Baranami" findet alljährlich auch ein Literaturfestival statt, das nach dem polnischstämmigen Literaturnobelpreisträger Joseph Conrad benannt ist. Dieses Jahr steht es unter dem Motto "Gemeinsame Welten". Die Literaturschaffenden wollen sich mit der Globalisierung auseinandersetzen und die weltweite Vereinheitlichung von Ideen und Vorstellungen reflektieren, meint Michał Paweł Markowski, künstlerischer Leiter des Festivals:
"Das beste Gegenmittel ist das literarische Nachdenken darüber, was Leser, Nationen und Kulturen verbindet. Die Literatur kann die Unterschiede zwischen ihnen unterstreichen, sie ermöglicht jedoch zugleich auch die Verständigung."
Die Geschichte Polens neu erzählen
Dies will auch der brandneue Roman der auch in Deutschland berühmten Olga Tokarczuk. Er heißt "Księgi Jakubowe", auf Deutsch also "Jakobs Bücher". Das über 900 Seiten schwere Epos feierte auf dem Literaturfestival seine Premiere. Er führt den Leser durch "sieben Grenzen, fünf Sprachen und drei große monotheistische Religionen".
Tokarczuk versucht darin nichts weniger, als die Geschichte Polens neu zu erzählen. Sie hebt dabei die Multikulturalität und Multinationalität des Landes hervor, zeigt aber auch seine inneren Konflikte und Spannungen. Die Geschichte sei nicht bloß Vergangenheit, etwas, was geschah und wieder verschwand, meint die Schriftstellerin. Die Geschichte präge die Identität der Polen heute, so Tokarczuk:
"Die Geschichte kann für den einen ein Fluch sein, besonders, wenn sie negative identitätsstiftende Elemente hervorruft. Befreien kann sie jedoch, wenn sie neue Perspektiven ermöglicht. Wir müssen immer wieder hinterfragen, was es bedeutet, Polen zu sein. Also: Wo ist unser Platz in Europa? Wie verstehen wir unsere Geschichte? Was konstituiert uns?"
Abtrünnige Schlesier
Damit trifft Olga Tokarczuk ins Schwarze. Im polnischen Oberschlesien wird nämlich aktuell eine heftige Debatte über ethnische, nationale und regionale Identität geführt. Hintergrund ist, dass sich die Schlesier noch nie so ganz als Polen gefühlt haben. Vor ein paar Jahren beantragte die "Bewegung für die Autonomie Schlesiens" sogar, dass die Schlesier als eigene ethnische Volksgruppe anerkannt werden. Dieser Antrag wurde vom obersten polnischen Gericht jedoch abgelehnt.
Über das Schlesiertum äußert sich auch der 34-jährige Autor Szczepan Twardoch häufig, der sich selbst ausdrücklich als Schlesier bezeichnet. In Deutschland wurde er im Frühjahr mit dem Roman "Morphin" bekannt. Sein neuer Roman "Drach" soll zum Jahresende auf Polnisch erscheinen und weckt jetzt schon großes Interesse beim heimischen Lesepublikum.
Schlesischer Lokalpatriotismus als Vorbild
Aleksander Nawarecki ist Professor für regionale Literaturen. Für ihn ist der Lokalpatriotismus der Schlesier ein interessantes Phänomen, das Vorbildcharakter haben sollte:
"Ich wünschte mir, dass jeder mit seiner eigenen Stimme sprechen würde. Das ist jedoch schwierig. Im Grunde sind die Polen die sprachlich, national und religiös homogenste Gesellschaft überhaupt. Aber die Betonung der regionalen Unterschiede gefällt den Leuten. Die Heideggersche Frage 'Wer bin ich?' ist uralt. Und die Vielfalt ist schließlich auch gesund für die Demokratie."
Polen und die Ukraine
Aber der Blick geht nicht nur nach innen. Die Krakauer Buchmesse, die am Wochenende stattfand, zeigt: Der aktuelle Konflikt zwischen Russland und der Ukraine beschäftigt auch den polnischen Literaturbetrieb. Der auch in Deutschland sehr erfolgreiche Schriftsteller Andrzej Stasiuk hat schon immer über die polnischen Regionen geschrieben, die an die Ukraine grenzen. In seinem neusten Buch "Der Osten" erzählt er von seinen Reisen nach Russland. Von der enormen Bedeutung des Ostens für Europa und für die Welt ist Stasiuk überzeugt:
"Da gibt es große Bilder und Landschaften, ein komplett anderes Licht. In dieser Grenzregion Russlands, Chinas und Indiens passieren wichtige Sachen und werden noch viel wichtigere passieren. Dort schreibt man Geschichte, dort entsteht die Zukunft. Der Westen ist für mich dagegen uninteressant."
Umgekehrt aber besteht durchaus Interesse! Der Literaturwissenschaftler Bernd Karwen ist mit einer Gruppe deutscher Verleger und Buchhändler auf der Krakauer Buchmesse unterwegs. Er ist von der Themenvielfalt des polnischen Literaturbetriebs positiv überrascht:
"Ich habe mich mit einigen Positionen zur Gender-Debatte in Polen versorgt, weil ich das mit Interesse verfolge, wie vehement das Thema hier diskutiert wird. Natürlich spielt das Thema Solidarność irgendwo immer eine Rolle. Ansonsten gibt es natürlich eine so große Vielzahl von Richtungen und Interessengebieten, dass es schwer ist, die auf einen Nenner zu bringen."
Die multikulturelle Existenz
Herkunft und Vaterland, Gedächtnis und Politik, Wahrheit und Geschichte dominieren diesen Herbst die literarische Diskussion in Polen.
Mit einigen Büchern unterm Arm verlässt eine warmangezogene Frau langsam das Messegelände. Die Sonne scheint, die Luft ist dennoch frisch. Wer hätte an diesem Nachmittag erraten, welch tiefe Gedanken sie beschäftigen:
"Die aktuelle Literatur beschreibt die multikulturelle Existenz, verbunden mit der Geschichte aller Menschen in ihren jeweiligen Ländern. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Wichtig dabei ist, dass er sich nicht verliert und seiner Identität treu bleibt."
Sagt sie. – Und Recht hat sie!