Preiswürdig oder uninteressant?
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Vor allem die Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke hat im Vorfeld für viel Diskussionen gesorgt. Um die zweite Literaturnobelpreisträgerin, Olga Tokarczuk, ist es sehr viel stiller geblieben. Auch an ihr scheiden sich die Geister.
Frank Meyer: Heute Nachmittag bekommen Olga Tokarczuk und Peter Handke ihre Literaturnobelpreise. Olga Tokarczuk konnte einem ein bisschen Leid tun in den letzten Wochen, weil da nur über Peter Handke debattiert wurde. Deshalb wollen wir jetzt konzentriert auf die polnische Autoren schauen, mit zwei Menschen, die in Sachen Tokarczuk allerdings auch wieder unterschiedlicher Meinung sind. Das sind zum einen die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky. Sie hat mehrere Bücher von Olga Tokarczuk ins Deutsche gebracht, und jetzt ist sie im italienischen Triest für uns im Studio.
Und hier in Berlin ist für uns im Studio Lothar Quinkenstein. Er hat zusammen mit Lisa Palmes das jüngste Buch von Tokarczuk übersetzt, das "Die Jakobsbücher" heißt. Lisa Palmes und Sie haben jetzt viel Zeit zugebracht mit dem jüngsten Werk von Olga Tokarczuk. Die Jakobsbücher", das sind ja 1184 Seiten. Nach all der langen Zeit, was finden Sie denn besonders interessant an diesem Buch?
Lothar Quinkenstein: Ja, das erste, was uns angesprochen hat, war die Geschichte selbst. Jakob Franck gehört jetzt in beiden Ländern nicht zu den Persönlichkeiten, die sehr bekannt sind, vielleicht in Polen sogar eher noch einzuordnen ist in bestimmten Kreisen, weil es da eine frankistische Spur gibt, die zu Adam Mickiewicz führt. Aber in Deutschland ist es keine Gestalt, über die man jetzt ständig sprechen würde.
Breit und vielschichtig erzählt
Meyer: Dann vielleicht ein Satz zu ihm. Was ist das für ein Mensch?
Quinkenstein: Er war ein Häretiker, der aus dem mitteleuropäischen Judentum kam und eine häretische Rebellion ausgelöst hat, der einen ungeheuer verschlungenen Lebensweg zurückgelegt hat, der, wie der Untertitel des Romans ja auch sagt, über sieben Grenzen führt, durch fünf Sprachen und drei große Religionen. Sein Lebensweg endet in Offenbach am Main. Das ist natürlich auch ein interessanter Aspekt, dass diese Reise dann dorthin führt. Und, was uns neben dieser Geschichte angesprochen hat, war die Struktur des Romans, die Architektur. Es ist ein episch polyphoner Wurf, sehr breit erzählt, sehr vielschichtig erzählt.
Meyer: Damit haben Sie jetzt schon sehr viel gesagt, was sehr interessant klingt im Blick auf diesen Roman und jetzt Esther Kinsky. Wenn mir das richtig übermittelt wurde, haben Sie "Die Jakobsbücher" auch gelesen oder angefangen zu lesen und nach etwa hundert Seiten weggelegt, und Sie wollten dieses Buch eben nicht übersetzen, obwohl Sie ja schon mehrere Bücher von Olga Tokarczuk übersetzt hatten. Warum nicht? Was hat Sie gestört an den Jakobsbüchern?
Esther Kinsky: Ja, also, ich hatte ja auch schon das vorherige Buch nicht übersetzt. Ich war eigentlich fertig mit Olga Tokarczuk nach diesem Buch "Unrast". Also, was mich an den Jakobsbüchern gestört hat, es schien mir so ein Sammelsurium, mal ganz ehrlich gesagt, von verschiedenen Beiträgen, in denen ich überhaupt keine Linie, Struktur erkennen konnte. Mir gefiel die Sprache nicht. Mir gefällt ehrlich gesagt dieser Ansatz nicht, dass sehr viel von hier und da zusammengeklaubt wird und dann in so einen Text eingebuttert, so hab ich es empfunden.
Und für mich war eigentlich nach den Büchern, die ich übersetzt habe, die Sprache von Olga Tokarczuk einfach wirklich nicht mehr interessant genug. Und das ist eine Entscheidung, die wahrscheinlich jeder Übersetzer irgendwann mal macht oder vielleicht auch schon von Anfang an weiß, was interessiert ihn mehr, die Geschichte oder die Sprache? Und für mich war die Sprache einfach nie herausfordernd genug.
Erzählstrategie beugt Beliebigkeit vor
Meyer: Bleiben wir erst mal vielleicht bei dem Thema Jakobsbücher, was Sie als Einwände formuliert haben, zu viele Themen, nicht wirklich miteinander verbunden. Herr Quinkenstein, was sagen Sie jetzt zu diesen Einwänden gegen dieses Buch?
Quinkenstein: Wir hatten, ganz im Gegenteil, das Gefühl, dass das sehr klar strukturiert ist, natürlich sehr in die Breite geht, dass ist überhaupt keine Frage, und dass von Anfang an hier eine - ja, wie soll ich das nennen? - eine Erzählstrategie verfolgt wird, die auf der einen Seite diese Breite zulässt, aber auf der anderen Seite auch ganz klar dieser Beliebigkeit vorbeugt.
In einer der Eingangsszenen gibt es die Beschreibung eines Hauses der Familie Shore in Rohatyn. Das war damals in Rzeczpospolita vor den Teilungen. Das ist heute Westukraine und in diesem Schtetl Rohatyn wohnt die Familie Shore, die eine wichtige Bedeutung hat für die Anhängerschaft später des Jakob Franck. Und dieses Haus wird sehr detailliert beschrieben als ein völlig verwinkeltes, labyrinthisches Gebilde, ein Abbild eigentlich, sozusagen in der Mikrostruktur des Romans, dieser Makrostruktur.
Und diese Polyphonie hatte für unsere Begriffe eben auch das Ziel, diese Figur des Jakob Franck nicht eindeutig festzusetzen, also ein abschließendes Urteil zu fällen, sondern, ihn zu zeigen, ihn erscheinen zu lassen und ihn dann auch wieder verschwinden zu lassen. Denn wir sehen Frank durch die Augen der Anhänger und durch die Augen der Gegner.
Meyer: Ich würde gern noch ein bisschen weiter anschauen, Frau Kinsky, ich hab jetzt auch ein bisschen mit Schrecken gehört, muss ich sagen, weil ich auch eins der Bücher, die Sie übersetzt haben, "Taghaus, Nachthaus" von Olga Tokarczuk, das habe ich mit großer Begeisterung gelesen. Und Sie haben dafür auch einen Übersetzerpreis, den Brücke-Übersetzerpreis, bekommen. Haben Sie denn auch da schon oder auch in anderen Büchern von Olga Tokarczuk die gleichen, was Sie jetzt als Schwächen benannt haben, gesehen vor allem, was die Sprache angeht?
Kinsky: Ja, ehrlich gesagt schon. Also für mich waren alle Tokarczuk-Übersetzungen Auftragsarbeiten. Das waren nicht die Bücher, die ich mir jetzt ausgesucht hätte. Aber so ist es einfach. Und man gewinnt ja auch immer was dazu. Also ich meine, es ist ja nicht so, dass das jetzt nur noch reine Knochenarbeit ist. Aber es sind von Anfang an nicht die Bücher gewesen, die ich mir ausgesucht hätte. Also, es waren oft solche Arrangements mit dem Verlag, dass ich dafür dann eine andere Autorin auch noch übersetzen durfte, an der mir sehr viel gelegen war.
Wobei ich jetzt sagen muss, wenn ich nicht zu weit ausgreife, ich glaube und das hätte überhaupt jetzt gar nichts mit einem Lob meiner Übersetzung zu tun, ich weiß, dass Lothar Quinkenstein und Lisa Palmes auch wahnsinnig viel Mühe in die Übersetzung gelegt haben. Ich glaube ehrlich gesagt, dass Olga Tokarczuk, und das sehe ich auch an der Reaktion in England und in Frankreich, von den Übersetzungen profitiert, was die Sprache angeht, weil natürlich wahnsinnig viel ausgebügelt wird, was auch durch den Mangel an Lektorat, auf dieses weite Feld, will ich mich jetzt gar nicht begeben.
Meyer: Sie meinen, profitiert auf dem deutschen Markt oder auf dem englischen Markt mit den Übersetzungen.
Kinsky: In jeder Übersetzung, weil ich glaube, dass Übersetzungen einen Schliff verleihen, wo Ungenauigkeiten sind, wo einfach deshalb, weil der Übersetzer immer in einer anderen Verantwortung steht als der Autor. Der kennt das Werk eigentlich sogar genauer, als der Autor und muss sich natürlich vor dem Lektorat rechtfertigen. Wenn etwas nicht stimmt an der Übersetzung wird es immer dem Übersetzer angelastet und nicht dem Autor.
Leserinnen danken Olga Tokarczuk
Meyer: Lassen Sie uns noch auf eine andere Seite von Olga Tokarczuk schauen. Sie ist als Autorin wichtig. Sie ist aber auch soweit ich das sehe, als öffentliche Person wichtig mit ihrer Meinung in Polen wichtig. Wie schätzen Sie das ein? Welche Bedeutung hat sie in Polen für die öffentliche Meinungsbildung, Herr Quinkenstein?
Quinkenstein: Das war, glaube ich, am deutlichsten zu sehen auf den Veranstaltungen, die sie in Deutschland hatte. Das waren die Lesungen, als die Jakobsbücher gerade erschienen sind. Es waren sehr, sehr viele Polinnen hauptsächlich im Publikum. Da ist tatsächlich zu sehen, dass Olga Tokarczuk sehr viele Leserinnen hat, die zutiefst gerührt nach der Lesung zu ihr kamen, und ihr Blumen gegeben haben und immer dazu gesagt haben, wir wissen, dass Sie keine Schnittblumen mögen, aber wenn Sie das bitte einfach als Zeichen meiner Anerkennung annehmen möchten, ich kenne alle ihre Bücher und diese Bücher geben mir so wahnsinnig viel, dass ich Ihnen dafür nur danken kann.
Ihre Bedeutung für Polen ist natürlich gerade in der jetzigen Zeit auch nicht hoch genug einzuschätzen, weil sie ja auch gesagt hat, dass sie diesen Nobelpreis den Polen widmet. Und das war ganz kurz vor den Wahlen und das hat natürlich eine ungeheure symbolische Bedeutung.
Für viele Leserinnen eine wichtige Figur
Meyer: Esther Kinsky, wir haben ja erfahren, dass Sie schon länger nicht mehr Olga Tokarczuk übersetzen, aber Sie beobachten die polnische Szene. Wie schätzen Sie das ein, wie wichtig ist ihre Stimme dort?
Kinsky: Ja, ich kann Lothar auch nur zustimmen, dass sie vor allem ein weibliches Leserpublikum hat und ich glaube wirklich dass sie für viele Leserinnen eine sehr wichtige Figur ist und unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Rolle, wenn man das politisch nennen will, der Würdigung ihrer Stimme im Land, da ist es natürlich sehr zu begrüßen, dass sie so einen bedeutenden Preis bekommt.
Aber ich sehe das einfach nur, was ich irgendwo aus einem Augenwinkel gelesen habe, dass es zur Feier irgendwie freien öffentlichen Verkehr gab für Frauen. Das sind natürlich alles unglaublich schöne Gesten und verweisen natürlich auch darauf, dass sie für viele Menschen eine große Bedeutung hat. Vor allem muss ich wirklich sagen, ich habe sie auch auf einigen Lesungen früher begleitet, wo 95 Prozent Frauen waren, und auch zum größten Teil Polinnen. Das ist einfach ein Phänomen. Und das hat aber wenig mit ihrer literarischen Bedeutung zu tun, die mich mehr interessiert.
Meyer: Frau Kinsky, Sie muss ich wahrscheinlich nicht fragen, ob Sie heute Abend groß mitfeiern, wenn Olga Tokarczuk den Preis dann bekommt. Aber Sie, Herr Quinkenstein, bestimmt. Sie machen doch bestimmt auch ne Flasche auf, wenn heute Abend der Nobelpreis verliehen wird, oder?
Quinkenstein: Ja, Lisa Palmes und mich hat das ungeheuer gefreut, dieser Preis. Das hat jetzt nicht unmittelbar etwas mit unserer Übersetzung zu tun, aber das so mitzuerleben und das zu erfahren, das war für uns schon etwas Besonderes. Und im Namen von Lisa Palmes und in meinem Namen möchte ich natürlich an dieser Stelle von ganzem Herzen die allerbesten Glückwünsche überbringen. Für uns ist das ein Geschenk gewesen, dass wir mitgenommen wurden auf diese große Reise, über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen. Das hat uns sehr viel gegeben, diese knapp zwei Jahre, die wir dafür verwendet haben. Wir sind durch dieses Buch beschenkt worden.