Gegenwartstexte sind den Schülern nicht automatisch näher
07:57 Minuten
Nicht nur Goethe und Kafka im Deutsch-Leistungskurs – das ist ein Wunsch, den viele Menschen teilen. Doch ein Gespräch mit einem Lehrer zeigt: Auch Literatur der Gegenwart ist nicht immer das, was die vielfältige Lebenswelt der Schülerschaft abbildet.
Frank Meyer: 3.500 Kommentare haben wir auf unseren Social-Media-Kanälen zu einem Beitrag meines Kollegen Florian Werner bekommen. Der hat kritisiert, dass die Abiturthemen im Fach Deutsch sehr oft aus dem ganz klassischen Kanon kommen, also Goethe, Schiller, Hesse, Kafka und so weiter. Dass die Autoren in diesem Kanon fast alle männlich sind und sehr wenig multikulturell.
Wir haben da viele Gegenvorschläge bekommen. Und über die spreche ich jetzt mit Klaus Riedel, Lehrer für Deutsch und Darstellendes Spiel am Oberstufen-Gymnasium in Bad Hersfeld.
Ein Vorschlag aus den Kommentaren sticht gleich so richtig heraus: "Axolotl Roadkill" von Helene Hegemann. Es geht um eine 16-Jährige, Probleme mit unserer Gesellschaft, mit den Eltern, Schulverweigerung, solche Sachen. Was sagen Sie zu so einem Vorschlag?
Klaus Riedel: Wir fanden uns vor ein paar Jahren wahnsinnig innovativ, in einer mündlichen Prüfung einen Ausschnitt von "Axolotl Roadkill" zu prüfen. Und ich kann Ihnen sagen: Es war eine wirklich schwierige Geschichte. Die Situation, dieser Protagonistin, die voller Drogen die Treppe herunterpurzelt in den Technoclub Berghain. Es war unserer Schülerin gegenüber so eine fremde Lebenswelt. Margarete in der Kammer [aus Goethes "Faust", Anmerkung der Redaktion] könnte eigentlich nicht Fremder sein.
Ich nenne Ihnen dieses Beispiel, um so ein bisschen mal zu zeigen, dass man unterscheiden muss: Was sind auf der einen Seite Texte, die ich tatsächlich prüfen kann und wo ich auch sagen muss: Darüber möchten Schülerinnen und Schüler auch geprüft werden? Und die ganz andere Frage ist selbstverständlich: Was für Texte, was für Lektüren, was für Themen sind Teil im Deutschunterricht? Und insofern würde ich das mal ein bisschen trennen. Nicht alles das, was auf Leselisten steht oder was im Abitur geprüft wird, das macht ja nicht allein den Deutschunterricht aus. Der Deutschunterricht ist ja tatsächlich viel vielfältiger, als sich das in diesen Leselisten oder letztendlich den Prüfungsthemen abbildet.
Es gibt keine Identifikationsfigur par excellence
Meyer: Habe ich Sie da jetzt recht verstanden für die Schülerin, die da konfrontiert war mit diesem Buch "Axolotl Roadkill": Die hatte damit Schwierigkeiten, weil ihr die Lebenswelt zu fremd war, weil das in ihrem Alltag nicht vorkommt? Aber die Lebenswelt von "Faust" dürfte ja auch nicht näher sein. Also eher im Gegenteil. Kann das ein Argument sein?
Riedel: Was ich deutlich machen will, ist: Ich glaube, man darf nicht diesen Kurzschluss machen und sagen, in dem Moment, in dem ich einen expliziten Gegenwartstext habe, ist es auch Nähe zu Schülerinnen und Schülern. Oder in dem Moment springen Schülerinnen und Schüler darauf an. Dafür sind die Lebenswelten von Schülerinnen und Schüler inzwischen viel zu unterschiedlich, als dass ich sagen kann: Das ist jetzt die Identifikationsfigur par excellence.
Plötzlich steckt man im Israelkonflikt
Meyer: Die Forderung von Florian Werner war auch, dass mehr migrantische/postmigrantische Literatur vorkommen müsste. Und bei unseren Kommentaren wurde unter anderem von Olga Grjasnowas "Der Russe ist einer, der Birken liebt" vorgeschlagen. Wäre das geeignet für eine Deutsch-Abiturprüfung?
Riedel: Ich würde wieder ein bisschen trennen zwischen Prüfung und Unterricht. Ich kenne dieses Buch und ich liebe dieses Buch. Wir unterhalten uns ja auch mit Lehrerinnen und Lehrern darüber, was mögliche Titel wären. Und das ist ganz wunderbar. Der erste Teil in Frankfurt ist eigentlich so, wie man sich wünschen würde, wie so ein Stück Literatur aussieht.
Im zweiten Teil geht die Protagonistin nach Israel. Dann ist auch das Thema der Konflikt zwischen arabischen Israelis und jüdischen Israelis. Das ist wiederum etwas, was Schüler und Schülerinnen ferner ist und auch etwas, was dann politisch aufgeladen ist. Ich habe überhaupt kein Problem damit, das tatsächlich im Unterricht zu machen und auch zu prüfen. Dann müssen aber auch alle Beteiligten bereit sein, die Kontroversen – und zwar gegenwärtige Kontroversen – die in solchen Gegenwartstexten behandelt werden, auch in den Unterricht hinein zu holen.
Ich mache das gerne, aber das muss man auch einfach wissen, dass ich mir die mit hinein hole. Und da muss ich auch mutig sein, diese Kontroversen auch auszuhalten.
"Corpus Delicti" ist auf der Leseliste
Meyer: Das wäre doch aber nur zu wünschen, wenn Literatur auch Anlass bietet, über solche Kontroversen zu sprechen. Gerade auch über die Erfahrungen, die formuliert sind in so einem literarischen Text, die sich dann zugänglich zu machen im Unterricht.
Riedel: Da gebe ich Ihnen recht. Das Ganze findet aber auch in der Institution Schule statt. Damit sind immer noch einmal ganz andere Ansprüche und Erwartungen verbunden und da befindet sich Schule wirklich in einem Zielkonflikt. Wir lesen ja gerade in Hessen "Corpus Delicti" von Juli Zeh. Als dieser Roman auf die Leseliste kam, war zum Glück von Corona noch überhaupt keine Rede. Jetzt ist es aber so, dass Corona da ist und – ich verkürze es mal – in "Corpus Delicti" wird quasi eine Gesundheitsdiktatur beschrieben.
Und in dem Moment, in dem jetzt Corona auftrat und Juli Zeh als gegenwärtige Autorin sich auch sprachmächtig dazu äußert, haben Sie diese Diskussion sofort mit dem Unterricht. Und das muss man sehr sensibel trennen: Wo rede ich noch tatsächlich über das literarische Werk und wo rede ich auf der anderen Seite über eine Haltung einer Autorin, die plötzlich mit ihrem literarischen Werk identifiziert wird?
Dann muss ich einfach schauen, im Unterricht diesen Blick auf die Literatur beizubehalten und nicht beispielsweise über die Coronapolitik der Bundesregierung zu richten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.