Hören Sie zum Thema auch unser Gespräch mit Irene Binal aus der "Lesart":
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Wenn jedes Wort überrascht
Beim Open Mike-Wettbewerb 2018 waren auch mehrsprachige Autoren siegreich, zum Beispiel Yade Yasemin Önder. Die Jurorin Katja Lange-Müller sagt, die Literatur profitiere davon, dass die Menschen in Deutschland kosmopolitischer werden.
Die Schriftstellerin und Jurorin Katja Lange-Müller sagte, dass die Jury die Texte der Teilnehmer des Open Mike-Wettbewerbs zwar im Vorfeld schon bekommen hätte, aber um alles gründlich zu lesen, sei die Zeit zu knapp gewesen. "Man wusste also schon, worauf man sich mehr oder worauf man sich weniger freuen konnte. Ansonsten musste man konzentriert zuhören und mitlesen." Bei den mittäglichen Gesprächen in der Jury habe man festgestellt, dass man gar nicht so weit in den Einschätzungen auseinanderliege.
Manche Texte halten mit der Performance nicht mit
Sie sei schon zum dritten Mal in der Jury und ein weiteres Jury-Mitglied, Lucy Fricke, sei auch einmal selbst Teilnehmerin des Open Mike-Wettbewerbs gewesen. "Damals saß ich auch schon in der Jury. Seitdem verfolge ich, was sie macht. Und Steffen Popp war mal mein Student. Den kenne ich auch gut.", sagt Lange-Müller.
In der eigentlichen Performance der Teilnehmer ändere sich dann so manches, wenn man es mit dem vorher erhaltenen Text vergleiche. "Manche performen so gut, dass die Texte nicht ganz mithalten können. Und den umgekehrten Fall gibt es natürlich auch." Zu den guten Performerinnen habe auch die Gewinnerin in der Sparte Prosa, Yade Yasemin Önder, gehört. Ihr Text bulimieminiaturen habe zudem ein viel größeres Volumen als der äußere Rahmen andeute. "Es ist ja immer gut, wenn im Text mehr drin ist als Wörter."
"Eine sich bewusst ins Wort fallende Erzählweise"
Lakonie, Zorn und grimmiger Witz seien bei Önder abwechselnd und symbiotisch zu finden. "Und auch die Syntax hat etwas Spezielles." Das sei ihr schon öfter aufgefallen bei mehrsprachigen Menschen: "Das ist alles unvermittelter, ohne 'weil' und 'und dann' und 'aber'. Dadurch gewinnt der Text ungeheuer an Fahrt."
Önders Text sei zwar durchgängig klein geschrieben und obwohl das etwas aus der Mode sei, habe sie das überhaupt nicht gestört, so Lange-Müller. "Der Text ist nämlich so strukturiert, dass jeder Satz, dass jedes Wort überrascht. Man fragt sich: Wie schafft sie es, Salami-Pizza und Hannelore Kohl in einem Satz unterzubringen?"
In ihrem Text sei das Lustige mit dem Zorn, mit dem Grimmigen einhergegangen. "Du lachst noch, und das Lachen gefriert dir schon im Mundwinkel. Dieser Text macht einfach wach, der macht putzmunter. Es entsteht ein ganz bestimmter sprunghafter Rhythmus, eine sich ganz bewusst ins Wort fallende Erzählweise."
"Migrantenliteratur" gibt es nicht mehr
Bei Önder und bei Kyrill Constantinides Tank (einem der Gewinner in der Sparte Lyrik) sei zu sehen, dass die migrantische Literatur der 90er-Jahre mittlerweile nicht als solche existiere, sondern zum Bestandteil des deutschen Literaturbetriebs geworden sei: "Das sind alles spannende Texte. Und das Spannende ist, dass sie unberechenbar sind. Das entsteht nicht durch einen Plot, sondern durch die Erzählweise. Da ist der literarische Aufwand groß und raffiniert." Die Literatur gewinne enorm, wenn die Menschen kosmopolitischer werden, sie werde größer und weiter, sagt Lange-Müller.
Auch Lara Rüter (die ebenfalls in der Sparte Lyrik gewann) sei sehr gut gewesen. "Sie macht einen ganz anderen Schallraum auf. Da gibt es ganz hochsprachliche Begrifflichkeiten und dann gibt es Alltagswörter, die einen ganz fremd angucken. Und das sind die Texte, bei denen man sagt: Hoppla!"