"Das Europa der Kultur macht Diversität zur Grundlage"
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Europa sei kein homogenes Ganzes, schreibt der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer in seinem neuen Buch. Er betont die Unterschiede der Kulturen und plädiert dafür, sie bei der Suche nach Gemeinsamkeiten nicht gleichförmig machen zu wollen.
Shelly Kupferberg: Was ist Europa heute? Auf welchen Geschichten, Mythen, Kulturen, Kämpfen, Definitionen, Illusionen baut es auf, stützt es sich? Jürgen Wertheimer ist Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen, hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und sich eingehend mit den Kulturen Europas beschäftigt. Seit 2017 leitet er das Projekt "Kassandra", in dem die Literaturen krisengefährdeter Regionen auf die Darstellung möglicher Konfliktursachen analysiert werden. Sein neues Buch trägt den Titel "Europa – eine Geschichte seiner Kulturen".
Europa sei ein Patchwork aus Erinnerungen, Realitäten und Fiktionen und alles andere als ein in sich geschlossenes Ganzes, schreiben Sie in Ihrem Buch, ein unglaublich komplexes Gebilde also. Wie, wann und wo wurde Europa überhaupt zu einem politischen Raum? Welche Mythen ranken sich um dieses Ereignis?
Jürgen Wertheimer: Ja, Sie haben das schön zusammengefasst, das ist in der Tat ein, wie man jetzt neuerdings sagt, Flickenteppich, und ich sehe den Begriff Flickenteppich nicht nur als negativ, sondern ein vernetztes Ganzes mit sehr vielen einzelnen Bestandteilen. Man muss sich das, glaube ich, immer wieder klar machen, dass Europa ein Mythenpool aus Verschiedenartigkeiten ist, vom Nahen Orient gespeist, vom klassisch griechisch-römischen Raum, von den nordischen Mythologien, vom Osten. Es gibt keinen zweiten großen Raum, in dem so viele und ich würde schon sagen sehr unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen und miteinander auf engem Raum dann doch wieder zu tun haben. Und diese Balance zu entwickeln, ist von Anfang an die Absicht gewesen.
Europa wurde immer wieder von sich selbst überrascht
Kupferberg: Sie steigen in Ihrem Buch tief in die griechische Antike ein, es geht um Grenzziehung, Kriege, Eroberung, Macht, es geht um die Auseinandersetzung Europas mit dem Islam und um die Verortung zwischen den einzigen Machtzentren Mekka, Jerusalem und Byzanz, es geht um die Römer, um humanistische Aufbrüche, Wanderarbeiter der Kunst und immer wieder um Literatur. Wie haben Sie sich denn diesem Mammutwerk, die Geschichte der Kulturen Europas überhaupt zu erzählen, genähert, um eine Struktur in diese gigantische Geschichte zu bekommen?
Wertheimer: Ganz einfach, ich habe mir gedacht, ich möchte Europa erzählen in seiner Lebendigkeit, in der Art und Weise, wie es zu dem wurde, was es ist. Das heißt, ich denke mir im Grunde eine Figur, eine Figur mit sehr vielen gemischten Identitäten, ein Migrant, der über Jahrhunderte hinweg eine Zeitreise macht und ganz verschiedene Erfahrungen macht und nie weiß, wie es weitergeht. Das Europa des Jahres 1000 wusste nicht, welche Kriege und Katastrophen noch auf es zukommen würden, es wusste nichts von der Aufklärung, die Aufklärung wusste noch nichts vom Totalitarismus. Und deshalb habe ich mich eigentlich zu dieser auf den ersten Blick simpel anmutenden chronologischen Erzählweise entschlossen, weil Europa ja immer wieder von sich selbst überrascht wurde und sich selbst allmählich neu definiert hat und Zusammenhänge gestiftet hat.
Kupferberg: Sie erinnern aber auch daran, dass das, was wir Europa heute nennen, im geografischen Sinne unglaublich unterschiedliche Konturen und Außengrenzen hatte in der Geschichte.
Wertheimer: Ja.
Besonderer Umgang mit Werten
Kupferberg: Wenn man heute immer wieder nach Gemeinsamkeiten und sogenannten europäischen Werten sucht: Gibt es die? Kann es die überhaupt geben?
Wertheimer: Also da mit dem Begriff der europäischen Werte, mit dem habe ich mich lange auseinandergesetzt, dem stehe ich sehr skeptisch gegenüber aus zwei Gründen: Zum einen ist es ein gewisser Hochmut. Ich kann doch nicht davon ausgehen, dass wir zum Beispiel das Phänomen der Toleranz gepachtet hätten, und andere Kulturen nichts davon wüssten, dass wir ein Menschenbild entwickelt haben, was anderswo in der Form überhaupt nicht existent ist. Das ist der eine Grund, warum ich dem skeptisch gegenüberstehe. Der andere, weil ich glaube: Diese Frage nach den europäischen Leitwerten oder dem christlichen Abendland oder was auch immer führt vom Zentrum ab. Europa ist nicht so sehr durch spezielle Werte definiert, wohl aber, das ist mir wichtig, durch einen besonderen Umgang mit Werten …
Kupferberg: Der aussehen könnte wie?
Wertheimer: … der immer und seit Beginn interessanterweise antithetisch, dialektisch, reflektierend und kritisch ausgesehen hat. Das heißt, man hat seine Werte von Beginn an einem argumentativen Stresstest unterzogen, und zwar aufs Härteste. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Antigone. Es gibt nirgendwo anders ein Theaterstück, das im öffentlichen Raum aufgeführt werden durfte, in dem ein junges Mädchen, lassen wir sie 18 oder 20 sein, einen totalitären Fürsten und Herrscher, einen Mann auf offener Bühne zur Rede stellt und, mehr noch, eigentlich argumentativ zerlegt.
Europa der Kultur macht Diversität zur Grundlage
Kupferberg: Europa, so schreiben Sie, war noch nie ein homogenes Gefilde mit festen Außengrenzen. Wenn man nun nicht wirtschaftliche Kriterien für ein vereintes Europa zur Grundlage machen würde, wie Sie es auch gerade skizziert haben und wie wir es heute vorfinden, sondern den Faktor Kultur stattdessen, wie Sie es vorschlagen in Ihrem Buch, was für ein Europa könnten wir dann heute haben?
Wertheimer: Es wäre ein Europa, was allemal eine Haupttendenz und, ich meine, einen Hauptfehler des politisch organisierten Europas nicht wiederholen würde, nämlich Gleichförmigkeit, Normativität, Standardisierung herstellen zu wollen. Ich weiß, ich pauschalisiere, aber Brüssel und Straßburg stehen nun mal auch dafür.
Im Gegenteil, das Europa der Kultur ist eines, was die Diversität zur Grundlage macht, was von der Vermischtheit, von der Überlappung und Überschneidung der Kulturen ausgeht: Der Balkanraum, irgendwie eingespannt zwischen dem Osten und uns, wir bezeichnen das dann gern als den Westen, aber anders funktionierend und seiner Andersartigkeit bewusst; die skandinavischen Länder, die weiter entfernt zunächst mal vom griechisch-römischen Einflussbereich bereits ihr autonomes Sein, Denken und ihre Modalitäten entwickelt haben, die nicht identisch sind mit denen des Mittelmeerraums; der gewaltige Osten, der manchmal am Ural endet, dann wieder nach Sibirien reicht; genauso gut der Westen. Das sind ja doch alles Territorien, die normalerweise ausreichen würden, eine eigene Kultur darzustellen – und es auch sind.
Und nun entsteht eben dieser Balanceakt, dieser verwegene Balanceakt, diese Verschiedenartigkeiten dennoch nicht einstimmig werden zu lassen, aber doch auf eine Grundstimme einstimmen zu wollen. Daraus entstehen riesige Probleme. Und nur wenn man ein Gefühl dafür entwickelt, und das, meine ich, wäre die kulturelle Leistung, die Leistung des kulturellen Transfers, wenn man ein Gefühl dafür entwickelt, wie man die Stimmen zueinanderführt, ohne die Einzelnen zu vergewaltigen oder zu manipulieren, wird Europa in der Tat ein Erfolg sein.
Europa der Nuancen
Kupferberg: Ein hochdemokratischer Prozess.
Wertheimer: Es ist ein demokratischer und es ist vor allem ein kommunikativer Prozess, das heißt, was wir oft als Defizit empfinden und dann auch negativ abwerten als Quasselbuden und so weiter, das ist im Grunde das Zentrum. Wir müssen uns ja permanent neu aufeinander ein- und abstimmen. In anderen Kulturen begegnet man dem anderen nicht sofort nach 200 oder 300 Kilometern, bei uns aber schon. Dieses Europa der Kulturen wäre auch eines, das sich wieder den Nuancen widmet und die nicht übergeht oder überdeckt, sondern die potenziellen, späteren Irritationsfaktoren, aus denen Katastrophen entstehen können, wahrnimmt, thematisiert, ausspricht, hin und her übersetzt und sich geduldig annähert.
Kupferberg: Und derlei Katastrophen gab es ja viele in der Geschichte Europas. Also die Vielfalt als Potenzial, die permanente Kommunikation fordern Sie, auch das permanente Aushandeln. Die Forderung vieler Europaverfechter nach einem gemeinsamen Narrativ, einer gemeinsamen Erzählung, macht diese Forderung überhaupt für Sie Sinn und wenn ja, wie könnte die aussehen?
Permanenter Prozess der Aufklärung
Wertheimer: Ich bin sehr skeptisch dem gegenüber, überhaupt dem Begriff eines Narrativs und noch mehr eines Narrativs. Also wenn man so will, gibt es ein Narrativ, ich würde sagen, eine Geschichte, eine Tendenz, eine Neigung, eine DNA, das ist die, einen permanenten Prozess der Aufklärung, der Demystifikation zu betreiben. Europa hat gewaltige Mythen entwickelt und sich ausgedacht, aber Europa war auch, die Denktradition Europas und die Institutionen waren auch zugleich diejenigen, die permanent die Stimmigkeit ihrer eigenen Mythen überprüft haben. Das fängt von den klassischen Mythen an bis hin zu den religiösen Mythen. Es ist ja kein Zufall, dass wir einfach jetzt im Laufe der Jahrhunderte einen gewissen grundsäkularen Gestus entwickelt haben.
Die allmähliche Demokratisierung der europäischen Kulturräume ist ein langfristiger Prozess, er ging über das Mittelalter weiter, erreichte seinen Höhepunkt sicherlich im 17. Jahrhundert, als alle Register der Kritik von Descartes bis zu den Naturwissenschaftlern gezogen wurden, um ein polyzentrisches Weltbild durchzusetzen und letztlich mit Erfolg durchzusetzen. Also es gibt schon diese Basisnarration, zu der wir uns aber auch verhalten sollten und der wir uns auch als Verpflichtung stellen sollten.
Primat des Individuums verteidigen
Kupferberg: Lassen Sie uns zum Schluss noch kurz ins Hier und Jetzt schauen. Im Zuge der Debatten um Corona-Hilfspakete für EU-Länder, die es besonders hart getroffen hat, wird der rein wirtschaftliche Faktor und alles, was dran hängt, noch mal ganz deutlich. Europa ist sowieso in keiner guten Verfassung, denken wir an den Brexit und extrem rechte Parteienbewegungen, Regierungen, die voll auf Nationalstaatlichkeit und Patriotismus setzen, Chauvinismus. Wie optimistisch sind Sie, dass eine Art europäische Idee auch weiterhin bestehen wird und in welcher Form?
Wertheimer: Europa steht vor der Entscheidung, sich jetzt in einen meiner Ansicht nach heillosen Wettbewerb mit den großen Systemen zu begeben, also China, Amerika, vielleicht Russland. Dem werden wir nicht gewachsen sein. Wir sind bis zu einem gewissen Grad tatsächlich ein Appendix des asiatischen Kontinents. Man muss das ganz realistisch sehen. Da sind Kräfte im Spiel, die vorher nicht herrschten. Wir haben ein Jahrhundert lang oder zwei, drei Jahrhunderte lang die Welt getaktet. Jetzt hecheln wir ihr hinterher. Und um nicht atemlos zu werden, müssen wir zu unserer Geschwindigkeit finden und uns zu unseren Möglichkeiten bekennen und auch Grenzen, also Grenzen im Mentalen. In dem Maße, wie es uns gelingt, uns dieser eigenen Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit bewusst zu werden und sie dann offensiv zu verteidigen und nicht als Defizit zu sehen, in dem Maße, in dem wir unsere besondere Situation, in die wir nun mal geraten sind, eine Art Drehkreuz zwischen den Kulturen, möglicherweise eine Rettungsinsel für von der Globalisation Überwältigtes, als eine Vermittlungsplattform, die einen Moment Ruhe gibt, sich ausklinkt und diskutierbar macht, was in den großen Strömungen versinkt, in dem Maß finden wir zu dem, was unsere eigene Identität oder, ja, sagen wir es ein bisschen pathetisch, Berufung sein könnte, zurück.
Und dann werden wir, in dem Maße werden wir stärker, glaubhafter, aber nicht, indem wir anderen hinterher hecheln oder uns in einen Wettlauf begeben, der nurmehr in der Quantifizierbarkeit und der Ausschaltung des Individuums münden würde. Wir haben nun mal ein System, das sich ganz und gar auf den Primat des Individuums einlässt und ihn betont und ihn verteidigt. Und diese Errungenschaft sollten wir jedenfalls nicht untergehen lassen. Und ich sehe die Gefahr schon sehr stark in einem Moment, in dem auch noch eine Fülle neuer Technologien, über die wir noch nicht gesprochen haben, dazu kommen, uns in einen Strudel zu werfen, in dem wir untergehen, statt uns mit unserer eigenen Kraft zu salvieren, zu retten und resilienter zu werden.
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