"Der Nobelpreis braucht ihn"
Bob Dylan gilt als einer der einflussreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts. Wie der Poet mit der krächzenden Stimme die US-Songtradition mit Literatur verbinde, sei einmalig, sagt der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering anlässlich des 75. Geburtstages des Musikers.
Rund 100 Millionen Tonträger soll er verkauft haben, seine Songs wurden zu Hymnen ganzer Generationen: Heute wird der legendäre Musiker, der am 24. Mai 1941 als Robert Zimmermann in Duluth (Minnesota) geboren wurde und sich später nach dem walisischen Dichter Dylan Thomas nannte, 75 Jahre alt. Zu seiner riesigen Fangemeinde zählt auch der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering von der Georg-August-Universität-Göttingen, der mit uns darüber gesprochen hat, was Werk Dylans so besonders macht.
Musik, Performance und Poesie
Der Musiker habe Musik, Performance und Poesie in einer einzigartigen Weise als Einheit wiederentdeckt, so Detering. "Dylan hat das in einer Komplexität ausgenützt, was diese Vermischung der Kunstarten ihm anbot, wie kein anderer das getan hat." Dass nahezu jede ein Zitat aus den bildungskulturellen Überlieferungen sei, ist für den Literaturwissenschaftler etwas ganz Besonderes: "Der Witz ist nicht, dass er das alles zusammenstiehlt und daraus diese Collagen erzeugt, sondern der Witz ist, dass es klingt, als sei es alles aus einem Guss. Das grenzt ans Wunderbare."
Den Literaturnobelpreis, für den der Musiker mehrfach im Gespräch war, brauche Dylan schon lange nicht mehr, so Detering. "Er hat alle erdenklichen Auszeichnungen und allen erdenklichen Ruhm eingeheimst. Ich glaube allerdings, dass es dem Nobelpreis gut tun würde, Dylan auszuzuzeichnen."
Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: David Bowie am 10. Januar mit 69 gestorben, Glenn Frey von den Eagles am 18. Januar mit 67 gestorben und Prince am 21. April erst mit 57 Jahren gestorben – alles in diesem Jahr. Er indes lebt noch und feiert heute: Bob Dylan, heute wird er 75. An seinem 30. Bühnenjubiläum, 1992 war das, da hat er mit seinen Kollegen ein großartiges Konzert gegeben. Aber heute, so hören wir, wird er sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen, sondern wie meist an seinem Geburtstag irgendwo entspannt chillen. Also wollen wir reden über seine Texte und seine Musik, und zwar mit dem Göttinger Literaturwissenschaftler Heinrich Detering. Er ist außerdem Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und – was in diesem Zusammenhang wichtig ist – bekennender Dylan-Fan und zudem Autor des kürzlich auch bei uns im Sender hoch gelobten Buches "Die Stimme aus der Unterwelt. Bob Dylans Mysterienspiele". Schönen guten Morgen, Herr Detering!
Heinrich Detering: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Wie oft – und damit zur Gretchenfrage –, wie oft haben Sie Dylan-Konzerte besucht?
Detering: Das habe ich nicht mitgezählt. Ich habe mich neulich selbst gefragt. Ich denke schon, dass ich ihn in allen wichtigen Phasen der letzten Jahrzehnte mehrfach gehört habe.
Wechselnde Maskenspiele - und doch immer der gleiche
von Billerbeck: Wie viele verschiedene Dylans haben Sie denn im Laufe Ihres beobachtenden Fanlebens erlebt?
Detering: Inzwischen bin ich so weit, dass ich sagen würde: Eigentlich immer denselben. Das Stereotyp, an dem ich mich auch beteiligt habe lange Zeit, dass Dylan immerfort seine Identitäten gewechselt habe, halte ich inzwischen für ein Stereotyp. Es stimmt natürlich, dass er seine Maskenspiele immer neu inszeniert hat, aber je länger es dauert und je weiter man zurückblickt, desto deutlicher scheint mir doch die Kontinuität in dieser Arbeit zu sein.
Es geht Dylan schon immer um dieselben Lebensthemen, die immer wiederkehren, die in unterschiedlichen Akzentuierungen, in unterschiedlichen Sounds wiederkehren, und auch dieses Bestreben, möglichst die gesamte amerikanische Songtradition – von den Arbeiterliedern und Kinderreimen des 18. und 19. Jahrhunderts bis zu Sinatra und zum Rap und zu allen möglichen Dingen – zu umfassen, dies scheint mir viele dieser unterschiedlichen Werkphasen zu erklären.
von Billerbeck: In den 80er-Jahren – daran erinnerten sich einige meiner Westberliner Kollegen –, da ist Dylan ja so ein bisschen in die Bedeutungslosigkeit getaumelt. 1987 wollte ihn in der Westberliner Waldbühne kaum wer sehen und deshalb ist er in Ostberlin aufgetreten, im Treptower Park. Nun war das ein besonderes Jahr, das wissen die Berliner, das war das Stadtjubiläum, wo sich Ost- und Westberlin ja immer gegenseitig übertroffen haben. 1991 hat ihn dann die Schallplattenindustrie – da war Dylan 50 Jahre alt – einen Grammy für sein Lebenswerk hingeworfen, das ist ja auch eigentlich ein vergiftetes Kompliment.
Detering: Ja.
Todesschlafähnliche Zustände
von Billerbeck: Doch von da an hat er plötzlich wieder großartige Platten gespielt und begeisternde Konzerte. Was bitte war da passiert?
Detering: Es gehört zu Dylans Werkgeschichte, es gehört zur Dramatik und Dramaturgie dieses Gesamtkunstwerks, dass er mehrmals sozusagen gestorben ist. Und das ist fast nicht mehr metaphorisch. Schon Ende der 80er-Jahre nach seinem ersten gewaltigen Höhenflug als Chefdandy der Rock-‘n‘-Roll-Kultur ist er so abgetaucht, dass Gerüchte über sein Ableben ernsthaft sich verbreiteten. 18 endlos erscheinende Monate war von ihm nichts zu sehen und zu hören.
Die Zeiten, die Sie ansprechen, die späten 80er und der Anfang der 90er, das war allerdings ein Tiefpunkt, bei dem man tatsächlich ganz unmetaphorisch sich Sorgen um seinen Gesundheitszustand machen musste. Es gab offensichtlich Depressionen, es scheint ein Suchtproblem gegeben zu haben, es gab einen writer‘s block. Es ist aber charakteristisch für Dylan und für die besagte Dramatik, dass er sich aus diesen todesschlafähnlichen Zuständen in erstaunlicher Weise selbst wieder befreit hat. Dylan ist auch im Unterschied zu denen, die Sie eben genannt haben, ein großer Überlebenskünstler geworden und geblieben.
von Billerbeck: Seither, könnte man sagen, ist er auf Never Ending Tour, fast die Hälfte des Jahres unterwegs, überall auf dem Erdball. Dylan ist ja eine Art Chamäleon, auch wenn Sie vorhin gesagt haben …
Detering: Das ist er, doch.
Parallelen zu Elvis Presley
von Billerbeck: Doch, das ist er, ja? Er erfindet sich immer neu, seine Songs werden zertrümmert und wieder neu zusammengesetzt. Kennen Sie noch einen anderen Künstler, der so mit seinem und auch mit dem Werk anderer Leute umgeht?
Detering: Da muss ich lange nachdenken und ich glaube nicht, dass mir jemand einfällt, der das in derselben Monumentalität tut. Das hat natürlich auch mit einfach der langen zeitlichen Erstreckung von Dylans Lebenswerk zu tun. Die ersten Aufnahmen, die wir auf offiziellen Platten vor uns haben, stammen von 1959. Das ist eine Chance, die einfach viele andere nicht hatten.
Ich denke, es gab einen Ansatz zu solchen Rollenwechseln, wie wir sie bei Dylan beobachten – so sonderbar der Vergleich klingen mag –, bei Elvis. Elvis ist zu früh gestorben, was übrigens auch für Dylan ein gewaltiger Schock war. Aber auch wenn man Elvis‘ Lebenswerk noch mal Revue passieren lässt, sieht man, wie der sich in ähnlicher Weise wie Dylan darum bemüht, unterschiedliche Traditionsbereiche zu erschließen, kreativ neu fruchtbar zu machen.
von Billerbeck: Jetzt muss ich erst mal kurz das sacken lassen, weil ich die beiden Figuren gerade vor meinem geistigen Auge sehe und die könnten kaum unterschiedlicher sein. Aber da ist was dran!
Detering: Könnten sie gar nicht, nein. Für mich ist Elvis in den letzten Jahren sehr wichtig geworden und das ist wesentlich auf Dylan zurückzuführen. Ich habe mich lange gefragt: Wie kann das sein, dass jemand wie Elvis für jemanden wie Dylan so unerhört wichtig ist? Umso mehr, als Elvis ja im Unterschied zu Dylan keine einzige Zeile selbst geschrieben oder komponiert hat.
Tatsächlich ist das Verbindende, und sogar sehr eng Verbindende diese hingebungsvolle Aufmerksamkeit für die amerikanische Song- und Musiktradition in ihrer Gesamtheit. Also von der Folkmusik über Blues, Country, Rockabilly bis zu den großen Sinatra-Songs von Tin Pan Alley. Da gibt es tatsächlich zwischen diesen beiden ganz unterschiedlichen Künstlern eine enge Verbindung.
Musik und Literatur in einzigartiger Weise verbunden
von Billerbeck: Dylan war ja auch immer ein Meister der medialen Präsentation. Er hat Bücher geschrieben, er hat den ersten Videoclip der Popgeschichte gedreht, er hatte eine eigene Radioshow, die sich als getarnte Poetikvorlesung verstehen lässt. Was ist für Sie als Literaturwissenschaftler das Faszinierende an ihm?
Detering: Zunächst muss ich sagen: Die Faszination beginnt für mich, lange bevor meine Literaturwissenschaft einsetzt. Aber wenn die dann dazukommt, dann sagt sie mir: Dylan hat in einer Weise, die nicht einzig ist, aber in der Konsequenz und im Umfang der Durchführung doch einzigartig, Musik, Poesie und Performance als Einheit wiederentdeckt.
Das gehört natürlich zur populären Kultur vor allen Dingen Amerikas seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts, seit der Entstehung des Jazz. Aber Dylan hat das in einer Komplexität ausgenützt, was diese Vermischung und Verbindung der Kunstarten ihm anbot, wie kein anderer das getan hat.
von Billerbeck: In Ihrem soeben erschienenen Buch, das auch bei uns ja sehr gelobt wurde von Jörg Magenau, "Die Stimmen aus der Unterwelt. Bob Dylans Mysterienspiele", da beschreiben Sie ja, dass nahezu jedes Bruchstück seiner Texte ein Zitat ist. Also aus der Bibel, aus Schlagern, aus vergessenen Filmen. Man könnte auch sagen, er hat sein Werk zusammengeklaut. Was fasziniert Sie denn an seinen Texten so?
Der Nobelpreis könnte sich mit Dylan schmücken
Detering: Das ist nun eine Entwicklung – und auch nur davon handelt dieses Buch, es gab schon ein früheres, das das Gesamtwerk in den Blick nahm –, hier fängt Dylan an, in einer neuen Weise mit den sogenannten hochkulturellen, bildungskulturellen Überlieferungen in derselben Weise umzugehen, wie man es immer schon im Jazz, im Blues, in der Gospelmusik mit den eigenen Überlieferungen getan hat. Der Witz ist nicht, dass er das alles zusammenstielt und daraus diese Collagen erfolgen, sondern der Witz ist, dass es klingt, als sei es alles aus einem Guss. Das grenzt ans Wunderbare.
von Billerbeck: Also, er müsste – am Ende gefragt – endlich den Literaturnobelpreis bekommen?
Detering: Danach werde ich immer wieder gefragt und jedes Mal enttäusche ich die Frage, indem ich sage: Eigentlich nicht. Nicht, dass er ihn nicht verdient hätte, aber er braucht ihn nicht mehr. Er hat alle erdenklichen Auszeichnungen und allen erdenklichen Ruhm eingeheimst. Ich glaube allerdings, dass es dem Nobelpreis guttun würde, Dylan auszuzeichnen, weil damit diese spezifische Kunstform, diese Ausdrucksform der Literatur, die im 20. Jahrhundert neu entstand oder wieder erstand, ausgezeichnet würde. Dylan braucht den Nobelpreis nicht, aber dem Nobelpreis täte Dylan gut.
von Billerbeck: Heinrich Detering, der Göttinger Literaturwissenschaftler und Dylan-Fan über Bob Dylan an dessen heutigem 75. Geburtstag. Danke, Herr Detering!
Detering: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.