"Es ist mit dem Flirten ziemlich vorbei"
Was haben flirtende Helden in der Literatur, die Kritische Theorie und die #MeToo-Debatte miteinander zu tun? Barbara Nagel hat darüber einen Vortrag an der American Academy in Berlin gehalten. Das Flirten sei "eine historische Diskursart", sagt die Literaturwissenschaftlerin.
Joachim Scholl: Dass man von der deutschen Philosophie, der Kritischen Theorie, plus der deutschen realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts einen Bogen zur aktuellen #MeToo-Debatte über sexuelle Belästigung schlagen kann, darauf wären wir ehrlich gesagt im Leben nicht gekommen. Eine Literaturwissenschaftlerin, der genau das aber gelingt, ist Barbara Nagel. Sie lehrt im amerikanischen Princeton, derzeit ist sie Stipendiatin an der American Academy in Berlin, und vor drei Jahren hat sie eine umfangreiche Studie zur Rhethorik und Ästhetik des Flirtens veröffentlicht. Barbara Nagel ist bei uns im Studio, willkommen!
Barbara Nagel: Freut mich sehr, danke schön!
Scholl: Wir sind auf Sie aufmerksam geworden durch einen Vortrag, den Sie hier in Berlin an der American Academy gehalten haben, und da bringen Sie drei Vertreter der sogenannten Kritischen Theorie, Georg Simmel, Walter Benjamin und Ernst Bloch mit drei Vertretern des klassischen Realismus des 19. Jahrhunderts zusammen, mit Theodor Storm, Gottfried Keller und Theodor Fontane, unter der Überschrift des Flirtens. Wie gesagt hat uns diese Kombination schon allein verblüfft. Wie sind Sie denn drauf gestoßen?
"Mich hat gerade die männliche Perspektive interessiert"
Nagel: Mich hat es auch verblüfft. Kritische Theorie wird natürlich auch in den USA wie wild rezipiert, aber die Literatur, die die kritischen Theoretiker gelesen haben, die deutsche Literatur, wird eigentlich nicht gelesen oder oft vernachlässigt. Mir sind im deutschen Realismus die Flirt-Konstellationen aufgefallen, auch durch mein Interesse an Komik. Da gibt es sehr oft Szenarien, wo die Frau militarisiert im Grunde genommen vorgestellt wird oder bewaffnet und den männlichen Protagonisten ins Schwitzen bringt. Das finden wir bei Fontane, zuweilen eben bei Storm, Keller habe ich mir angeguckt …
Es sind andere Szenarien als jetzt zum Beispiel in der viktorianischen, in der englischsprachigen Literatur bei Jane Austen oder Edith Wharton. Mich hat gerade die männliche Perspektive beziehungsweise diese Männerfantasien interessiert.
Scholl: Lassen Sie uns mal auf ein Beispiel schauen, Theodor Storms Novelle "Der Schimmelreiter". Den Text kennen vermutlich die meisten Hörer, also die düstere Geschichte vom Deichgraf Hauke Hein. Und Sie nehmen sich da zwei bestimmte Flirtszenen vor, so kann man sie nennen. Schildern Sie uns mal die Erste?
Das Dunkle und das Wunderschöne des Flirts bei Storm
Nagel: Es sind interessanterweise die Flirtszenen zwischen Hauke und der zweiten Protagonistin Elke sind eigentlich immer stumm, wunderschön verhalten. Aber die eigentlichen Flirtszenen, würde ich sagen, finden zwischen Elke und drei älteren Würdenträgern des Ortes statt.
Und zwar hat sich Elke zum Ziel gesetzt, dass sie den reichsten Mann des Dorfes heiraten möchte. Und diese Würdenträger fragen dann nun, wie soll das funktionieren – die Würdenträger möchten erst mal, dass Hauke Deichgraf wird, aber das klappt nicht, weil er zu arm dafür ist, also sein sozialer Status behindert ihn. Und Elke sagt, na ja, ich möchte auch, dass der Deichgraf wird, aber er hat nicht genügend Gut. Warum heiratet er nicht mich, dann hat er genügend Gut.
Dann gibt es nur das rechtliche Problem, durch das die Würdenträger nicht durchsteigen. Dass sie sagen, na ja, das ist ja gut und schön, wenn du ihn heiratest, aber er hat dann ja erst nach der Heirat genügend Gut. Und dann sagt sie, na ja, dafür schenke ich ihm dann mein Land schon vorher, denn ich möchte den reichsten Mann des Dorfes heiraten. Das lässt dann diese Würdenträger sprachlos.
Und was mich nun an Storm interessiert, ist, dass es immer das Dunkle und das Wunderschöne des Flirts gibt. Man kann sagen, diese Szene ist herrlich, weil eine Frau dort ihr Glück in die Hand nimmt und sagt, einem rechten Manne darf auch die Frau helfen, und ich möchte den reichsten Mann im Dorfe heiraten, und das mache ich hiermit auch. Aber gleichzeitig kann man es natürlich als Antiemanzipation lesen, nämlich deine Frau, die ihr ganzes Hab und Gut verschenkt noch vor der Heirat und sich vollends abhängig macht.
Scholl: Ich hab diese Szene wirklich nicht mehr im Kopf gehabt. Ich hab sie noch mal gelesen und hab mich eigentlich auch wieder gefreut. Ich hätte es eher so gesehen, dass die Elke superclever ist und dieser Männergesellschaft einfach einen Trick macht und dann noch sozusagen kokett sagt, ja, so heirate ich den reichsten Mann des Dorfes, indem ich ihm nämlich mein ganzes Geld gebe. Das heißt, die Frau ist doch eigentlich die Mächtige in dem Spiel, oder?
Konstellationen, die "Unbehagen" auslösen
Nagel: In dieser Szene schon. Ich glaube, das Unbehagen bei mir oder dieses Zweifeln kommt aus dem restlichen Korpus von Storms Schriften, wo wir immer wieder Konstellationen haben – Heinrich Detering hat darüber wunderbar geschrieben –, immer wieder Konstellationen haben, wo ältere Männer sich in junge Mädchen verlieben und immer imaginieren, von diesen verführt zu werden.
Das finden wir auch in Storms Leben, Bertha von Buchan, die Zehnjährige, wo man sich dann fragt, wer verführt hier eigentlich wen? Ist das doch eher wieder die Freud’sche Verführungstheorie, wo das Kind den Erwachsenen verführt? Da kommt ein gewisses Unbehagen, oder es hat mich die Szene aus dem Schimmelreiter neu lesen lassen, als ich mich gefragt habe, ist das jetzt hier Ermächtigung oder eher Abgabe von Macht.
Scholl: Diese Szene verknüpfen Sie eben mit Georg Simmels Theorie des Flirtens, auch dem Theoretiker der Kritischen Theorie. Und die Frage ist natürlich nun, wenn man auch die beiden anderen Beispiele, also Theodor Fontane und dann Gottfried Keller nimmt, wie lässt sich denn hier ein Bogen zur aktuellen #MeToo-Debatte schlagen, Frau Nagel, und was können wir denn da Erhellendes daraus lesen?
"Man kann sich einen Harvey Weinstein nicht flirtend vorstellen"
Nagel: Von Simmel ist am bekanntesten ein Text, "Die Koketterie" von 1909, wo er mit "frisson", also mit einem gewissen Reiz, aber auch mit Sorge beschreibt, die Frau hat die Macht im Flirt, in der Koketterie. Sie hat die Macht über das Ja und Nein, und sie genießt diese Macht so lange, wie sie kann, also im Grunde eine Warnung formuliert. Und für die #MeToo-Debatte wurde immer wieder gesagt, können wir nicht statt sexueller Belästigung einfach flirten?
Das wirkte auf mich hirnrissig. Einerseits ja, es wäre wunderbar, wenn mehr geflirtet würde, weil flirten immer auch einen demokratisierenden Effekt hat, also Machtverhältnisse umdreht oder infrage stellt. Gleichzeitig kann man sich nicht einen Harvey Weinstein flirtend vorstellen, eben weil man sich darauf einlassen muss, fragil zu werden oder auch erst mal diesen Terror zu erfahren, nicht zu wissen, was hier gerade passiert, das nicht konsumieren kann. Man weiß nicht, was man dabei herausbekommt.
In der #MeToo-Debatte ist mir ganz wichtig, dass sexuelle Belästigung eben nicht nur den Körper in Besitz nimmt, sondern auch unseren Geist. Jacqueline Rose, eine feministische Theoretikerin, hat das sehr gut beschrieben. Also unsere Fähigkeit zum Tagträumen geht uns Flöten. Wir lesen eben solche Geschichten, diese gewaltsamen Szenen. Und da finde ich Literatur ganz wichtig, dass sie Gegenszenarien beschreibt, wie es anders sein könnte, und uns wieder tagträumen lässt.
Scholl: Sie lehren in Princeton, einer der renommiertesten Universitäten der Welt. In Amerika ist die #MeToo-Debatte ja losgetreten worden. Können wir vermuten, dass es sozusagen auch in den Universitäten ein ganz brennendes Thema ist, wahrscheinlich auch gerade in den Geisteswissenschaften, oder?
"Meine Studenten wissen nicht mehr, was Flirt ist"
Nagel: Ja, natürlich, Universität müssen auch, wie alle Arbeitgeber, jetzt überlegen, welche Konsequenzen ziehen sie aus #MeToo? Meistens wird die Konsequenz gezogen, das Flirten zu verbieten, also jede Art von Witz zu verbieten, die Hand auf der Schulter zu verbieten. Wir müssen uns jetzt heute in dem Kapitalismus, in dem wir leben, natürlich fragen, wo sonst können wir flirten, wenn wir nicht bei der Arbeit flirten. Was bleibt denn noch übrig an Zeit?
Ich fürchte, es ist mit dem Flirten ziemlich vorbei. Dass es eine historische Diskursart ist, die immer mal wieder aufgekommen ist und dann wieder verschwunden ist. Und hinzu kommen die medialen Revolutionen, Tinder, Apps – meine Studenten wissen nicht mehr, was Flirt ist.
Scholl: Das Flirten in der Literatur und die #MeToo-Debatte. Das war die Literaturwissenschaftlerin Barbara Nagel. Vielen Dank für Ihren Besuch!
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