Drei Quadratmeter sind besser als nichts
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Vor vier Jahren hat Sven Lüdecke ein kleines Haus für einen Obdachlosen gebaut. Mittlerweile gibt es 120 davon in ganz Deutschland. Auf drei Quadratmetern bieten sie Menschen ein wenig Privatsphäre. Aber das ist für diese nur der erste Schritt.
Sven Lüdecke ist unterwegs, quer durch die Republik, wie immer. Lenkt seinen Kleinbus durch den Hamburger Stadtverkehr. Rund 120 so genannte "Little Homes" für Obdachlose hat der Profifotograf schon in ganz Deutschland aufgestellt. Auch in Hamburg-Barmbek, für Dagmar und Dennis.
"Ich fahre auch regelmäßig dann bei den Bewohnern vorbei", erzählt er, "wenn ich irgendwie in der Nähe bin und eine Stunde Zeit habe. Dann mache ich einen Abstecher und gucke, ob es dem Menschen, der im 'Little Home' wohnt, gut geht."
Seit seiner Idee mit den "Little Homes" ist Lüdecke nicht mehr als Berufsfotograf unterwegs, sondern als Kümmerer. Er parkt seinen Wagen, geht die paar Schritte zum kleinen Park zu Fuß. Die Idee, Obdachlosen ein Dach überm Kopf zu zimmern, kam dem Kölner vor vier Jahren. Damals erlebt er, wie Sicherheitsleute ziemlich rüde eine wohnungslose Frau aus dem Hauptbahnhof der Domstadt warfen.
"Daraufhin habe ich mich dann eingemischt und habe mich dann mit der Frau unterhalten, der einen Kaffee ausgegeben – so durfte sie dann noch eine Stunde im Bahnhof bleiben", erinnert er sich. "Und das war so für mich der Anstoß: 'Verdammte Scheiße! Du kannst dich jetzt nicht mehr weggucken. Jetzt musst du was tun!' Und als ich dann von meinem Fotojob in Leipzig zurückgekommen bin, bin ich in den Baumarkt gefahren und habe angefangen. Nur mit einer groben Skizze. Ich habe keine Ahnung gehabt, ob das funktioniert. Wie das aussieht. – Ich habe einfach angefangen, zu bauen."
Leben auf drei Quadratmetern
Im kalten Nieselregen begrüßt Sven Lüdecke Dennis und Dagmar. Dennis schiebt seinen Schlüssel ins Vorhängeschloss, lässt es aufschnappen. Sein Zuhause ist ein Holzhäuschen, ein Verschlag auf Rollen in Hamburg-Barmbek am Rand eines kleinen Parks.
"Das sind 3,2 Quadratmeter. Zwei Meter Schlaffläche und dann noch so ein kleiner Stauraum von ungefähr einem Meter zehn. Dann hat man noch seine Camping-Toilette und halt ein bisschen Staufläche."
Die beiden "Little Homes" sind winzig. Vor allem für einen breiten, bulligen Typen wie Dennis. Neben ihm steht seine Mutter Dagmar. Eine schmale Frau, mit Rucksack auf dem Rücken. Blondgraue Haare, zum Zopf gebunden. Von Januar bis September 2019 haben Dagmar und Dennis auf Hamburgs Straßen gelebt. Nachdem beide erst ihren Beruf, danach dann noch die Wohnung verloren hatten. Auch Dagmars Reich hat klare Abmessungen: 3,2 Quadratmeter. Aber das, sagt sie, ist alle Male besser als zugigen, kalten Straßen der Hamburger Innenstadt.
Grausame Übergriffe
"Die Übergriffe, die waren für uns furchtbar. Leider sind die Junkies dann gekommen und wollten mich dann entweder vergewaltigen oder unsere letzte Habe wegnehmen. Und das war grausam."
Jetzt haben die beiden eine U-Bahn-Station in der Nähe, immer ist ein bisschen Betrieb, die Leute hier passen auf, sagt Dagmar. – Nachts können sie ihre Schuhkarton-Wohnungen von innen verriegeln. Und auch tagsüber bieten die schwarz und weiß bemalten Pressholzwände ein Minimum an Privatsphäre, sagt Dennis.
"Man ist den ganzen Blicken nicht ganz so sehr ausgesetzt. Aber im Endeffekt: Man kann sagen, man ist halt noch wie in so einem Terrarium. Wenn man vor der Hütte sitzt, dann ist es so, dass die Leute gucken. Oder wenn man was isst, was trinkt, dann gucken die Leute. So als wäre man im Zoo."
Die ersten "Little Homes" hat Sven Lüdecke aus eigener Tasche bezahlt. Stückpreis: rund 1400 Euro, ohne Arbeitszeit. Dafür mit einem kleinen, schmalen Fenster, durch das ein bisschen Tageslicht reinkommt. Mit großen Rollen unter dem Fundament, unter den umfunktionierten Transport-Paletten.
"Alle Wände werden einzeln gefertigt und dann wird es zusammengestellt", erklärt er. "Und die Rolle haben wir drunter, damit die Häuser jederzeit beweglich sind. Einmal für den Bewohner, weil wir nicht wissen: 'Kommt der Bewohner an der Stelle klar? Möchte er da stehen? Oder will er lieber woanders hingehen?' Und das Zweite ist: Wir umgehen das Baugesetz! Da wir auf Rollen stehen, sind wir kein festes Bauwerk. Und damit brauchen wir keine Baugenehmigung."
Kaum waren die ersten "Little Homes" fertig und bezogen, stand fest: Das ganze Projekt kann nur gelingen und groß werden, wenn mehr Hilfe da ist, mehr Geld reinkommt, erzählt Sven Lüdecke. Er gründete einen Verein, warb um Unterstützung aus der Wirtschaft und bekam sie.
Eine große Baumarktkette bietet Lüdecke Sonderkonditionen, eine Mietwagenfirma stellt ihm den Dienstwagen, mit dem er in ganz Deutschland unterwegs ist. Wieder andere helfen mit rechtlichem Rat oder Spenden. In 13 Städten gibt es schon "Little Homes".
Aber übernimmt Sven Lüdecke und sein Verein damit nicht Aufgaben, um die sich eigentlich der Staat, die reiche Stadt Hamburg kümmern müsste?
"Da hast du recht, " sagt er, "ich fühle mich auch manchmal überfordert. Denn wir haben eine Warteliste von 19.000 Menschen. Und ja, ich habe sogar Angst, dass es irgendwann heißt: 'Es muss keiner auf der Straße liegen! Denn wir haben ja die 'Little Homes'!' Wir wollen keine Ghettos schaffen, wir wollen keine Favelas schaffen wie in Brasilien. Deswegen: Egal, wie groß so ein Platz ist, wir stellen zwischen drei und fünf Häuser an eine Stelle. Drei ist so die Minimum-Gruppe, um sich gegenseitig Schutz zu geben. Und fünf ist das Höchste der Gefühle, bevor wir eine kleine Ferienlagersiedlung entstehen lassen. Das wollen wir nicht. Und ja: Die Politik ist dringend gefordert, adäquaten Wohnraum zu schaffen!"
Liebe für den Job
Abwarten, bis diese Politik Abhilfe schafft, will Sven Lüdecke aber nicht. Stattdessen sitzt der "Little Home e.V." mit allen Bewohnern der kleinen Buden zusammen und entwickelt Zukunftsperspektiven. Das Wohnen in großen Holzkisten soll nur ein erster Schritt sein. Von der Straße zurück in eine eigene Wohnung. Zurück in Arbeit.
Bei Dennis und Dagmar hat das fast schon geklappt. Über Sven Lüdecke und seinen Verein haben die beiden einen kleinen Job gefunden. Und hoffen nun auf eine Sozialwohnung. Lüdecke steuert seinen Bus zurück in die Innenstadt, hat noch einen Termin mit dem neuen Chef von Dennis und Dagmar, will wissen, wie es läuft, ob er helfen kann.
"Klar ist mir die Sache über den Kopf gewachsen", sagt Lüdecke. Aber zurück will er deshalb nicht. "Definitiv macht das Spaß. Und das Schöne ist: Man sieht auch, was passiert, was auch mit dem einzelnen Menschen passiert. Und das Schöne ist, dass das ja alles unterschiedliche Charaktere sind. Und dass wir uns jederzeit wieder einstellen müssen auf den einzelnen Menschen und auf die neue Situation. Und das ist das, was ich an dem Job liebe."