Der Schatz im Mauerwerk
Jüdische liturgische Literatur darf nicht einfach weggeworfen werden, sondern wird in Hohlräumen eingemauert. Solche sogenannten Genisot sind für die Forschung von unschätzbarem Wert - und der Fund in Bayreuth ist besonders außergewöhnlich.
Ganz vorsichtig nimmt die Genisa-Forscherin Elisabet Singer ein Fundstück aus der Pappkiste. Sie entfernt das Seidenpapier und hält ein zerknittertes Blatt in den Händen: ein jüdischer Taschenkalender, gedruckt im Jahr 1773 in Sulzbach. Der hebräisch abgefasste Kalender ist nur einer von über 20 geborgenen Kalendern. Sie alle stammen aus der Zeit von 1760 bis 1780. Eine komplette Sammlung:
"Diese Kalender sind eben von großem Wert für uns Forscher, weil wir an ihnen einigermaßen die Ablegezeit verfolgen können. Andere Bücher sind dafür nicht geeignet, denn man weiß ja nie, wie lang ein Buch benutzt wird."
Seit 12 Jahren erforscht die Volkskundlerin Genisa-Funde in Bayern und Rheinland Pfalz. Sie arbeitet eng mit dem Jüdischen Kulturmuseum im fränkischen Veitshöchsheim zusammen. Vor allem in unterfränkischen Dörfern würden immer wieder Genisot entdeckt, meist in ehemaligen Synagogen:
"Das liegt dran, dass vor allem in Süddeutschland sehr viele kleine jüdische Landgemeinden existiert haben bis ins 19. Jh hinein. Es gab Synagogen, es gab Schulen, es gab wirklich ein blühendes Gemeindeleben."
Einige Dorf-Synagogen fielen deshalb nicht den Nazis zum Opfer, weil sie sonst Nachbar-Gebäude entzündet hätten. Andere waren schon lange vor der Reichspogromnacht verkauft worden. So blieben auch die Gensisot erhalten.
Der Genisa-Fund von Bayreuth ist schon deshalb eine Sensation, weil nur ganz wenige Stadtsynagogen erhalten geblieben sind, sagt der Gemeindevorsitzende Felix Gothart.
Die unmittelbare Nähe zum Opernhaus hat die Synagoge davor bewahrt in der Pogromnacht mit abgebrannt zu werden, weil die Nazis hatten Angst, daß das Opernhaus mit abbrennt.
Geweiht wurde die Bayreuther Synagoge 1760. Sie ist das älteste original erhaltene Bethaus in Deutschland, das bis heute als solches genutzt wird. Es war der Vorgängerbau der Markgräflichen Hofoper. Nach Einweihung des heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Opernhauses kauften David und Moses Seckel das Gebäude. Als Hofjuden pflegten sie ein freudschaftliches Verhältnis zum jungen Markgrafen Friedrich.
Am 9. November 1938 schändeten die Nazis auch die Synagoge von Bayreuth. Daran erinnert eine nach dem Pogrom aufgenommene Fotografie:
"Der Giebel hier im Eingangsbereich wurde zu Boden runter gestürzt, man hat Hakenkreuzfahnen raus gehängt, das Dach wurde abgedeckt bzw. die Nazis sind da oben rum gekrochen am Dach, ham aber diese Genisa nicht gefunden."
Deshalb war Felix Gothart schon lange davon überzeugt, irgendwann einmal die alten Schriftstücke bergen zu können. Der Anlass für eine intensive Suche fand sich, als die Sangoge für ihr 250. Weihejubiläum renoviert werden sollte.
Bayreuth ist eine sehr lebendige orthodox orientierte Gemeinde mit rund 500 Mitgliedern. Im Synagogenhof hinter dem Opernhaus wurde sogar eine neue Mikwe gebaut. Schon bei den Gründungsarbeiten suchten Archäologen nach evtl. vergrabener Judaica. Fündig wurden sie aber erst bei Untersuchungen des Dachbodens. Verborgen unter Schutt und Brettern tauchte der Schatz in einem Hohlraum des Außenmauerwerks auf.
"Ich hatte dann sofort alles liegen gelassen und mich sofort mit dem Denkmalschutz in Verbindung gesetzt, und dann hatte ich die Adresse eben von zwei Wissenschaftlerinnen bekommen, die sich dann auch als Glücksgriff für die Gemeinde rausgestellt haben."
Doch ist die Genisa von Bayreuth nicht nur für die Gemeinde sondern auch für die Wissenschaft von außerordentlichem Wert, sagt Doktorandin Elisabeth Singer. Denn sie wurde vor Ort, also in situ, aufgefunden.
"...während alle anderen Genisot, die wir bis dahin bearbeitet hatten, schon in Kisten zu uns kamen, von Laien geborgen, die da wenig dokumentiert haben."
Neben den Kalendern mit Tierkreiszeichen für jeden Monat, sterngedeuteten Wetterprognosen, Angaben zu den Markttagen oder gar Tips zur Behandlung von Krankheiten befanden sich in der Bayreuther Genisa vor allem Gebetbücher und biblische Schriften. Auch Teffilinriemen, Mesusa-Pergamente oder Fragmente aus der Pessach-Haggada wurden unter den Bodenbrettern abgelegt.
Ein Stück hat es Elisabeth Singer besonders angetan. Sie packt ein Täschchen aus Ziegenleder aus. Darin befindet sich eine kleine Stoff-Hülle. Schließlich legt sie eine hebräische Handschrift mit kabbalistischen Zeichen frei.
"Also man kann nicht glauben, dass sie Jahrhunderte lang dort oben im Staub lag, weil sie wirklich wie gestern geschrieben aussieht, und das ist ein Amulett für eine Kindbetterin. Man hat ja früher die Probleme, dass sowohl Neugeborene als auch die Kindbetterinnen sehr leicht gestorben sind, und hat dagegen Amulette geschrieben, die dann die Kindbetterin unterm Kopfkissen trug oder am Körper trug oder auch übers Bett. Und die sollten Mutter und Kind beschützen."
Vor allem die aufgefundenen Kalender und Alltagsschriften geben eine weitere Besonderheit preis. Sie sind in westjiddischer Sprache abgefasst.
"Also grad als Süddeutscher versteht man Westjiddisch sehr gut und eigentlich ohne Unterstützung. Auch Häbrismen sind sehr selten darin. Und diese Bücher sind eben so die letzten Zeugnisse davon. Man weiß auch nicht, wie das Westjiddische gesprochen wurde. Man kennts eben nur hier aus der Literatur."
1500 Inventarnummern hat Elisabeth Singer bisher für die etwa 8000 Fundstücke vergeben. Darunter befinden sich auch unzählige Schnipsel, die sich gar nicht mehr zuordnen lassen. Denn in allen Zeiten haben auch Mäuse auf dem Dachboden gelebt. Digitalisiert sollen die Blätter schon bald der Öffentlichkeit zugänglich sein, ähnlich dem Bayreuther Friedhofsregister. In spätestens zwei Jahren wird auch das neu zu gründende Jüdische Museum von dem sensationellen Genisa-Fund erzählen. Ein Gebetbuch enthält sogar einen Namenseintrag:
"Das gehörte einer Frau aus der Familie Würzburger. Die Familie Würzburger war in Bayreuth eine sehr bekannte Familie, wo es auch heute eben noch Nachfahren gibt, die somit auch ein Zeugnis ihrer Vorfahren gefunden haben."