Hören Sie hier die Online-Langfassung des Interviews (rund 27 Minuten) mit Liv Ullmann:
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"Letzten Endes war er eine Insel"
Liv Ullmann war Anfang 20, als Ingmar Bergman sie für den Film "Persona" entdeckte. Sie wurde nicht nur seine Lebensgefährtin, sondern auch eine der wichtigsten Darstellerinnen im Bergman-Kino. Sie sagt: "Er verstand Frauen besser als die meisten Männer."
Patrick Wellinski: Geht es Ihnen eigentlich auf die Nerven, so oft über Ingmar Bergman sprechen zu müssen?
Liv Ullmann: Manches daran ist schon ermüdend – wenn es sich immer nur um mich dreht, wenn ich nur über mich selber und meine Beziehung zu Ingmar reden soll. Aber meistens werde ich an bestimmte Dinge erinnert, oder es ist eine neue Frage dabei, die inspirierend ist, und am Ende spüre ich, wie gut es für mein Leben war, jemanden wie Ingmar gehabt zu haben. Wenn es nichts anderes zu besprechen gibt, ist es doch immer noch großartig, sagen zu können: "Ich erinnere mich daran, wie er das geschrieben hat, diese Szene in diesem Film". Ein so großer Teil meiner Arbeit fand ja mit ihm statt, obwohl ich wesentlich mehr ohne ihn gemacht habe. Aber es waren Erlebnisse mit ihm, die mich als Mensch verändert haben.
Patrick Wellinski: Sind Sie überrascht von den Dimensionen der weltweiten Feierlichkeiten zu Bergmans 100. Geburtstag?
Seine Werke werden weltweit aufgeführt
Liv Ullmann: Davon bin ich sehr überrascht. Als ich davon erfuhr, fragte ich mich "Warum?" – das ist alles so lange her und er ist jetzt schon fast zehn Jahre tot. Aber dann ist mir klar geworden, dass es nicht nur um die Filme geht, auch um das, was er geschrieben hat, was es den Leuten bedeutet hat und was es gerade jungen Menschen bedeutet hat.
Dann war ich überrascht zu sehen, dass auf der ganzen Welt, an den seltsamsten Orten, Gedenkveranstaltungen stattfinden, wo zum Beispiel seine Drehbücher am Theater aufgeführt werden, aber ganz anders, als er sie in den Filmen inszeniert hatte. Seine Werke werden an Opernhäusern gezeigt, an ganz verschiedenen Orten, es gibt sogar Ballettaufführungen. Wenn er das gewusst hätte! Dann wäre er sehr glücklich gewesen.
Wissen Sie, letzten Endes war er eine Insel, er lebte die letzten zehn Jahre seines Lebens ja auch auf Farö, ohne es jemals zu verlassen. Ingmar wollte nicht, dass die Leute sich auf ihre Inseln zurückziehen, sich isolieren, so sollten wir nicht sein, darüber sind ja schon Gedichte geschrieben worden, dass wir uns umeinander kümmern müssen. Aber Ingmar musste sich auf seine Insel zurückziehen. Nur dort konnte er seine Werke schaffen. Werke, mit einer Botschaft: Seid keine Insel! Isoliert euch nicht! Kümmert euch umeinander! Legt keine Gleichgültigkeit oder Kälte an den Tag. Darum geht es in seinen Filmen und in seinen Texten. Ingmar selbst konnte diese aber nur erschaffen, indem er alleine war und diesen Zustand in seine Kunst mit einfließen ließ. Das ist Paradox. Aber Ingmar ist in diesem Sinne kein zurückgezogener Inselbewohner, obwohl er uns das, was er uns gegeben hat, nur geben konnte, weil er auf seiner Insel geblieben ist.
Patrick Wellinski: Das ist interessant, wenn Sie ihn als einen Inselbewohner, Eremiten, Zurückgezogenen beschreiben, dann passt das eher zu einem Schriftsteller. Jemand, der Filme macht, muss mit vielen Menschen zusammenarbeiten, mit Schauspielern, Kameraleuten...Wie war er am Set, wenn die Kamera lief?
Liv Ullmann: Er war dann immer so glücklich! Er lebte ja regelmäßig sehr isoliert und zurückgezogen, aber er war auch kindlich, extrem kindlich. Únd ich glaube, die meisten, die mit ihm gearbeitet haben – und das waren ja größtenteils immer wieder dieselben Leute –, fanden diese Dreharbeiten sehr angenehm, mit all den Späßen, dem Lachen, den Spielereien. Ingmar gehörte zu den glücklichsten unter ihnen, vielleicht weil er als Kind nicht gerade der beliebteste Junge in der Klasse war. Aber jetzt gehörte er plötzlich zur Gruppe dazu!
"Er wäre heute sehr unglücklich über diese digitale Welt"
Im Laufe meines Lebens habe ich viele Männer mit Kontrollzwang getroffen – auch Frauen, aber vor allem Männer – und er behielt gerne die Kontrolle am Set. Aber in der Freizeit, da war er so glücklich, er musste nichts unter Kontrolle haben, konnte endlich einfach nur ein Teil der Gruppe sein. Ich glaube, so war das sein ganzes Leben lang, nicht nur während der 40 Jahre, in denen ich ihn kannte, auch schon vorher. Dieser Drang wurde sogar immer stärker, je älter er wurde.
Patrick Wellinski: Sie sagen, er behielt gerne die Kontrolle – wie war das, wenn er z.B. eine Figur für Sie erschuf? Sagte er Ihnen, "Ich will, dass du diese Figur genau so spielst und nicht anders"? Oder ließ er Ihnen die Freiheit und sagte "mach einfach"?
Liv Ullmann: Nein, nur die schlechten Regisseure, sagen dir, was du zu denken und wie du es zu sagen hast, und wie dein Herz zu schlagen hat. Man erkennt einen schlechten Regisseur sofort daran, dass er einem sagt, wie genau man etwas zu tun hat. Ingmar sammelte die besten Leute um sich und gab ihnen das Skript. Er sprach zu Anfang mit allen über die Idee hinter dem Film und dann wartete er auf unsere Beiträge, auf unsere Lebenserfahrungen, die wir in das Projekt einbringen sollten. Er war oft ganz glücklich, wenn er von den Gedanken seiner Schauspieler überrascht wurde: "Oh, das hat er oder sie darin gesehen!" Der Kameramann - als ich dabei war, war das meistens Sven Nyquist – und er arbeiteten meist ohne Worte, weil sie einander so gut kannten, das war wie ein Tanz. Er stand dann bei der Kamera, wie ein Liebhaber, wenn man sehr verliebt ist, sich sieht und sich gegenseitig erkennt. Darüber hat Ingmar ja immer geschrieben, dass wir eben nicht wirklich in Verbindung miteinander treten, dass wir uns nicht wirklich sehen, uns nicht zuhören.
Wenn er heute noch leben würde, wäre er, glaube ich, sehr unglücklich über diese digitale Welt, in der es nicht mehr von Mensch zu Mensch geht, sondern darum, was die Technik einem an Informationen und menschlichen Entgegnungen zur Verfügung stellt. Wir berühren Bildschirme mit einer größeren Zärtlichkeit als unser Gegenüber. Das hätte Ingmar niemals überlebt.
Liv Ullmann: Nein, nur die schlechten Regisseure, sagen dir, was du zu denken und wie du es zu sagen hast, und wie dein Herz zu schlagen hat. Man erkennt einen schlechten Regisseur sofort daran, dass er einem sagt, wie genau man etwas zu tun hat. Ingmar sammelte die besten Leute um sich und gab ihnen das Skript; er sprach zu Anfang mit allen über die Idee hinter dem Film und dann wartete er auf unsere Beiträge, auf unsere Lebenserfahrungen, die wir in das Projekt einbringen sollten. Er war oft ganz glücklich, wenn er von den Gedanken seiner Schauspieler überrascht wurde: "oh, das hat er oder sie darin gesehen!" Der Kameramann - als ich dabei war, war das meistens Sven Nyquist – und er arbeiteten meist ohne Worte, weil sie einander so gut kannten, das war wie ein Tanz. Er stand dann bei der Kamera, wie ein Liebhaber, wenn man sehr verliebt ist, sich sieht und sich gegenseitig erkennt. Darüber hat Ingmar ja immer geschrieben, dass wir eben nicht wirklich in Verbindung miteinander treten, dass wir uns nicht wirklich sehen, uns nicht zuhören.
"Beziehungen sind nicht zum Scheitern verurteilt"
Patrick Wellinski: Aber seine Filme sind doch gewissermaßen prophetisch, z.B. was die zum Scheitern verurteilten Beziehungen zwischen Männern und Frauen betrifft, was ja auch ein Problem der heutigen Generation ist. Wie sehen Sie das? Sind die meisten Beziehungen zwischen Männern und Frauen zum Scheitern verurteilt.
Liv Ullmann: Nein, ich glaube nicht, dass sie zum Scheitern verurteilt sind. Und ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass er das gedacht hat. Aber er wollte zeigen, wie schwierig es ist. Ich glaube er hat mal etwas darüber geschrieben, dass in Zweierbeziehungen: egal ob Mann und Frau, oder Mann und Mann oder Frau und Frau; dass in diesen Beziehung einmal der eine der Erwachsene ist und der andere das Kind und dann wieder andersrum. So muss das immer sein, es können nicht zwei Kinder zusammenleben, ebenso wenig wie zwei kontrollierende Erwachsene – man muss sich gegenseitig Raum lassen, die Rolle desjenigen einnehmen, den man vielleicht in seinem eigenen Leben vermisst hat, seinen Vater oder seine Mutter oder einen anderen Erwachsenen, und dann dem Anderen auch diese Möglichkeit gewähren, das gleiche zu erfahren.
Ich glaube nicht, dass Ingmar dachte, dass diese Beziehungen immer zum Scheitern verurteilt waren. Ich denke, es geht in allen seinen Filmen darum, dass wir es immer wieder versuchen sollen. Nochmal und nochmal! Und dann zeigt er uns, warum es schief geht. Er hat keine Bibel darüber geschrieben, wie eine gute Beziehung funktioniert, und sehr oft funktioniert es ja auch nicht. Aber ich lese häufig Interviews mit Leuten, in denen es sich so anhört, als ob sich da zwei gefunden hätten. Wir stehen uns zu häufig selber im Weg.
Patrick Wellinski: Ich erinnere mich an einen Satz von ihm in "Laterna Magica", ich glaube auf der ersten Seite, wo er zu seinen frühen Erinnerungen zurückkehrt – er schreibt da: "Ich erinnere mich an alles, aber nicht an den Schmerz und die Angst. Die Angst kam hinterher." Wie steht es mit Bergman und der Angst, seinem kreativen Schaffen und seiner inneren Angst, die er gehabt haben muss, befinden diese sich auf einer Ebene?
"Natürlich glaubte er an Gott!"
Liv Ullmann: Ja, die Angst und die Kreativität: Bei Ingmar stehen sie auf gleicher Höhe. Ich glaube, wenn er diese innere Angst nicht gehabt hätte, wäre er wahrscheinlich nicht der Bergman, den wir kennen. Er nutzte seine innere Angst, und anstatt sich in Furcht aufzulösen und um ihn herum alle in Sorge zu versetzen, integriert er die Angst in sein Skript und versucht eine Lösung zu finden. Und die Lösung ist da. Auch wenn der Film nicht unbedingt glücklich endet. Aber er zeigt eine Lösung, wie zum Beispiel in "Das siebente Siegel": Man spielt Schach mit dem Tod. Aber es ist nicht wirklich traurig, wenn man spielt, um ein bisschen mehr Lebenszeit zu bekommen, um etwas Gutes zu tun, dass nicht für einen selber bestimmt ist. Oder in "Die Jungfrauenquelle": Was für ein wunderschöner Film! Dabei endet alles so traurig: die Tochter wurde vergewaltigt und ermordet, und Mutter und Vater sind im Wald und finden sie und halten ihre schöne Tochter und dann heben sie sie hoch, in den Himmel, und dort, wo sie lag, entspringt eine Quelle. Es ist magisch und schön. Viele sagen, Ingmar habe nicht an Gott geglaubt – natürlich glaubte er an Gott! Auf seine Art. Das sehen wir in seinen Filmen. Wie in Die Jungfrauenquelle. Es ist einerseits traurig, aber es ist auch wundervoll und eines Tages wird es vielleicht so sein.
Und jetzt, wo Ingmars Arbeit so gefeiert wird, wird man vielleicht in seinen Texten und Drehbüchern aktuellere Wahrheiten finden als bisher in seinen Filmen, weil man da von den Bildern so in Bann geschlagen wird, und einiges davon jetzt vielleicht altmodisch erscheint. Aber Ingmar schrieb Sätze, die man heute hört und von denen man damals gar nichts wusste, oder sie nicht verstanden hat – vielleicht wird man Ingmar ja eines Tages eher als prophetischem Schriftsteller begegnen und nicht nur als faszinierendem Filmemacher.
"Er sah und erkannte an, was ich tat"
Patrick Wellinski: Wenn man mit Ihnen redet, müssen Sie ja immer rückblickend über Ihre Beziehung zu Ingmar Bergman sprechen, aber können Sie mir vielleicht sagen, wie sie den ersten Tag am Set mit ihm damals empfunden haben? Hat sich das wie ein Abenteuer angefühlt oder wussten sie womöglich gleich, "das wird etwas Großes"?
Liv Ullmann: Ich glaube nicht, dass ich dachte, dass das etwas Großes werden würde. Ich war so schüchtern. Ich glaube, am ersten Tag hatte ich eine Riesenangst, dass er herausfinden würde, dass ich in Wirklichkeit ein Niemand bin und sich fragen würde, warum er sich darauf eingelassen hatte, mit mir zu arbeiten, weil er ja vorher nie mit einer Ausländerin gearbeitet hatte… Diese Angst wurde mir aber schon am ersten Tag genommen.
Ich sah diesen Mann bei der Kamera stehen und zuschauen. Und ich machte etwas, und merkte, dass er es sah und anerkannte. Das war ja der Grund, warum ich Schauspielerin geworden war: ich konnte nur durch Gesten kommunizieren! Und weil ich so schüchtern war, war es gut, dass meine Rolle in "Persona" stumm war. So musste ich mir keine Gedanken um Worte machen, ich konnte einfach sein. Ich dachte also nicht, dass der Film etwas Großes werden würde. Ich dachte wohl einfach nur, dass ich extremes Glück hatte, mit Ingmar Bergman zu arbeiten.
Wissen Sie, ich wohnte damals mit Bibi Anderson zusammen, die die andere Hauptrolle spielte. Wir waren sehr enge Freundinnen. Wir gingen nach dem ersten Drehtag Hand in Hand nach Hause, sie war nicht eifersüchtig auf mich und ich auch nicht auf sie, weil beide Rollen gleich groß waren. Ich verstand damals nicht alles im Skript von Persona und Bibi verstand es auch nicht. Aber wir dachten beide "Oh mein Gott, das ist unglaublich!" Wir waren einfach sehr glücklich.
Als wir nach Farö fuhren, um das Ende des Films zu drehen – der größte Teil des Films wurde ja auf Farö gedreht, der Insel, auf der Bergman später sein Haus baute –, da dachten wir, dass das die beste Zeit unseres Lebens war. Ingmar dachte das auch und Sven Nyquist, der Kameramann, und das ganze Team.
Worin wir uns alle ebenfalls einig waren, war, dass wir nicht wussten, wer sich diesen Film ansehen sollte! Aber das war egal, weil wir so eine tolle Zeit hatten! Ingmar schrieb mal auf ein paar Fotos aus dieser Zeit: "Kinder, die zusammen Spaß haben. Liv und Bibi und Ingmar und Sven." Wir hätten niemals gedacht, dass irgendjemand sich diesen Film ansehen würde und waren dann sehr vom Erfolg überrascht. Da dachte ich: "Uuh… vielleicht wird das ja eine neue Stufe in meiner Karriere."
"Er hat Frauen besser verstanden als die meisten Männer"
Patrick Wellinski: Wenn man sich Bergmans Filme ansieht, merkt man, dass er gerne Charakterrollen für Frauen geschrieben hat, vielleicht die besten und intensivsten im Kino des 20. Jahrhunderts. Hat Bergman die Frauen verstanden oder war jeder Film ein weiterer Schritt im Versuch, Frauen zu verstehen?
Liv Ullmann: Ich glaube, er hat Frauen besser verstanden als die meisten Männer, die ich vor und nach ihm kennengelernt habe. Einfach, weil er sich für Frauen interessiert hat. Er hatte wohl auch viel Weibliches in sich. Aber ich habe auch noch eine Theorie, die ich schon in einigen Interviews erwähnt habe, von der ich nicht weiß, ob sie stimmt, weil wir nie darüber gesprochen haben. Aber bei "Persona", was ich ja, wie gesagt, nicht wirklich verstanden habe, hatte ich immer das Gefühl, dass ich gewissermaßen eine Version von Ingmar darstellte. Meine Reaktionen auf andere Filmfiguren, wie ich sie ansah und beobachtete, sie dazu brachte, Dinge zu sagen, von denen sie nicht wussten, dass sie sie sagen werden - das gab mir das Gefühl, Ingmar zu sein.
Das habe ich auch später bei vielen anderen Rollen in seinen Filmen gespürt, dass ich vielleicht sein Sprachrohr war. In zwei Filmen würde ich sagen, war ich einfach eine Frau, aber bei den anderen, denke ich, war ich eine Art alter ego, so wie er war, wie er sprach, auch mit seinem großen Interesse an anderen Frauen. Denn meine Figuren waren auch an anderen Frauen interessiert, hatten starken Bezug zu anderen Frauen, hatten Angst vor ihnen und benutzten sie, wie in "Persona". Ich fühlte, dass ich Ingmar war. Und ich spürte, dass er sich zur Zeit der Dreharbeiten von "Persona" an einem traurigen Punkt seines Lebens befand. Das könnte am Alter gelegen haben, daran, bald 50 zu werden. Bei den nächsten beiden Filmen, "Schande" und ""Passion"", da lebten wir schon zusammen. Auch das waren Frauenfiguren, die Ingmar repräsentierten. Ingmar, der ausbrechen und frei sein wollte, der Kontakt aufnehmen wollte, aber missverstanden wurde. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber so fühlte es sich an.
"Ich habe ihn in gewisser Weise personifiziert"
Patrick Wellinski: Texte über Sie und Ingmar Bergman sprechen häufig von der Muse und ihrem Mentor. Beschreiben diese Worte tatsächlich die Beziehung Ullmann-Bergman?
Liv Ullmann: Das ist schon OK. Meine Bildung hielt sich zeitweise in Grenzen und als ich den Begriff "Muse" hörte, wusste ich nicht, was er bedeutete und fragte "Wer ist die Muse? Er oder ich?" Jetzt weiß ich das natürlich. Ich war die Muse. Wenn ich näher darüber nachdenke, war ich das natürlich. Er hat eine Menge von mir bekommen und er hätte die Filme, die er gemacht hat, ohne mich so nicht gemacht. Sie wären anders geworden, vielleicht besser, vielleicht schlechter, vielleicht genauso gut. Sie sind so geworden, wie sie waren, weil er die Worte, die er sagen wollte, mir in den Mund gelegt hat. Ich habe ihn wohl in gewisser Weise personifiziert.
Kürzlich habe ich nochmal ein Stück von von "Passion" gesehen und gedacht, wie schlecht der Ehemann im Film doch zu mir, seiner Frau, war. Ich habe mich aber auch gefragt, warum Ingmar die Frau als jemanden beschreibt, der heiliger als der Papst sein will. Aber als ich das jetzt nochmal sah, dachte ich: Vielleicht war ich Ingmar und habe mich gewissermaßen entblößt, mich schuldig dafür gefühlt, wie ich mein Leben geführt habe, obwohl er sein Leben eigentlich sehr gut und anständig geführt hat.
Ich fange gerade an, diesen Film und mein Leben auch anders zu sehen. Als ich das damals gespielt habe, sah ich es noch nicht so. Aber die Figur der Anna war nicht falsch - als sie rausging, um zu beten, am Ende des Films, tat sie das aus echter Sorge. Heute würde ich das anders machen, aber sie ging einfach raus und betete. Dann kommt Max von Sydow, der den Ehemann spielt, sieht sie und sagt: "Da bist du ja, sitzt da und betest und kümmerst dich gar nicht." Vielleicht traf Ingmar auch auf solches Missverständnis.
Auf jeden Fall reagierte man damals oft so auf ihn und seine Filme: "Ach, du wieder, mit all deinen Worten, das ist doch alles gar nicht wahr." Vielleicht waren sie doch wahr. Und vielleicht war es falsch, dass ich die Frau so unsympathisch dargestellt habe. Vielleicht war sie in ihrem Wunsch, gut zu sein, wahrhaftig. Vielleicht lag der Ehemann mit seinem Zorn falsch. Das klingt wahrscheinlich sehr merkwürdig und kompliziert, aber da steckt irgendwo schon eine gewisse Wahrheit drin.
Patrick Wellinski: Habe ich Sie da richtig verstanden, dass Sie die Filme noch einmal gesehen haben?
Liv Ullmann: Nein, nein, "Passion" hatte ich nicht wieder gesehen, seit wir ihn damals gedreht hatten. Aber ich bin bei einer Retrospektive zu früh ins Kino gekommen, da habe ich zwei Filme ein bisschen mitgesehen, "Passion" und der andere war "Herbstsonate" – bei dem habe ich das gleiche gefühlt: Die Tochter, die ich spiele, die findet, dass ihre Mutter so gemein zu ihr war. Sie hat einen Drei-Seiten langen Monolog, indem sie die Mutter anklagt, diese arme Frau hatte ich immer verteidigt. Aber als ich es jetzt noch einmal sah, dachte ich: "Was, wenn sie lügt? Vielleicht ist das alles eine Lüge?" Wenn ich das jetzt nochmal spielen müsste, hätte ich vielleicht auch meine Mutter verflucht, aber gleichzeitig durchblicken lassen, dass es sich bei meiner Figur um keine ehrliche handelt. Das Gleiche gilt für "Passion"– vielleicht war Anna ja doch echt, vielleicht hat sie sich wirklich um die Menschen gesorgt, und der Mann, der sie angreift für ihr Beten, war vielleicht derjenige, der andere daran hinderte, das Richtige zu tun, weil er selber mit sich unzufrieden war.
Patrick Wellinski: Sie haben auch selber einige Filme gedreht und wurden ja auch schon oft gefragt, wieviel Sie von Ingmar Bergman gelernt haben. Aber meine Frage lautet ein wenig anders: Haben Sie sich selber jemals als Regisseurin vorgestellt, bevor Sie Ingmar Bergman getroffen haben? Hat es sie vorher schon interessiert, mal hinter der Kamera zu stehen?
Liv Ullmann: Nein, es hat mich lange Zeit überhaupt nicht interessiert, selber Regie zu führen. Bevor ich meinen ersten richtigen Film machte, drehte ich einen Kurzfilm. Aber das machte ich, weil ich so eine gute Idee hatte: Eine Geschichte über ein altes Ehepaar, von denen die Frau Alzheimer hat und in ein Krankenhaus kommt. Man sieht den Mann, wie er morgens aufwacht, alleine in seinem großen Bett, aufsteht, sich zurechtmacht und einen Picknick-Korb mit Orangensaft und Haferbrei packt.
Damit geht er die Straße entlang und keiner nimmt ihn wahr, weil er so alt ist. Dann kommt er zum Krankenhaus, wo ihn auch keiner beachtet, er öffnet die Tür und da ist sie. Man sieht ihrem Gesicht an, dass sie eigentlich gar nicht mehr richtig anwesend ist, aber für ihn ist sie da und er lächelt sie an. Er setzt sich zu ihr, gibt ihr den Haferbrei und liest ihr aus der Bibel vor. Dann sehen wir ihn wieder nach Hause gehen und wieder sieht ihn keiner an, aber wir wissen, hier ist ein Mann, der weiß, wie man liebt. Diese Botschaft wollte ich weitergeben. Es war ein Kurzfilm für eine Kompilation von mehreren Regisseurinnen. Ich weiß gar nicht, warum diese Filme nie gezeigt werden, weil sie ganz gut waren.
"Ja, Liv, du kannst Regie führen"
Aber nein, ich wollte keine Regisseurin sein, ich wollte einfach nur diese Geschichte erzählen. Ich schrieb aber eine ganze Menge. Eine dänische Produktionsfirma fragte mich, ob ich zu einem Roman ein Drehbuch schreiben könnte. Ich habe dann vieles an dem Roman geändert, um die Liebe richtig darstellen zu können. Als die dann mein Skript lasen, fragten sie mich "warum führst du dabei nicht gleich Regie?" Das war das erste Mal. Ich wollte nie Regisseurin sein. Ich rief Ingmar an, ich war in Dänemark und fragte ihn: "Glaubst du, ich könnte bei einem Film Regie führen?"
Und er antwortete: "Ja, Liv, du kannst Regie führen." Also habe ich ja gesagt und es gemacht. Und da wusste ich, die ganze Schauspielerei war nur eine Lehrzeit für die Regie. Wenn ich ein anderer Mensch gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich viel mehr Regie geführt. Aber ich bin jemand, der gemocht werden möchte, der den Leuten gerne alles recht macht. Die ersten Wochen am Set habe ich dann viel Zeit damit verbracht, mich darum zu kümmern, dass auch alle ihren Kaffee haben, und so kann man kein Regisseur sein. Ingmar hat auch gesagt: "Das ist dein Fehler, dass du immer solche Angst hast, etwas falsch zu machen." Wenn ich mutiger gewesen wäre, hätte ich viel mehr Regie geführt.
Ich habe auch am Theater Regie geführt und das war besser für mich, weil wir dabei alle immer menschliche Wesen bleiben und nichts Technisches ins Spiel kommt, kein Film, bei dem ein Haufen Leute Entscheidungen treffen, Produzenten mitreden und so weiter – im Theater sind es einfach du und ich – da ist es wie eine Familie. Und es könnte nie stattfinden, wenn es kein Publikum gäbe, es ist alles lebendig. Wenn ich früher angefangen hätte, und selbstsicherer gewesen wäre, wäre die Arbeit als Regisseurin wohl die richtige für mich gewesen.