Kreative Protestformen und Choreografien
Gewalttätige Demonstrationen und entspannende Körper im Hamam - dazwischen changieren die Performances beim Live Art Festival in Hamburg. Künstler loten hier Choreografien und Formen kreativer Proteste aus.
"Nochmal, räumen sie jetzt den Platz oder wir müssen unmittelbaren Zwang anwenden."
Rauch versperrt die Sicht. Dazwischen kämpfen Polizisten gegen Demonstranten. Immer wieder rücken die schwarz-gekleideten Männer vor. Sie tragen weiße Helme, Schlagstöcke und Plastik-Schilder. Unter denen können sie sich einigeln wie unter einem Schildkrötenpanzer. "Das sieht ja aus wie bei Asterix", sagt eine ältere Hamburgerin, zuckt ihre Schultern und geht weiter.
Was da vor dem Hamburger Hauptbahnhof passiert, ist nicht, wie einige Passanten vielleicht mutmaßen, eine Neuauflage der Krawalle zum 1. Mai, sondern die Eröffnungsperformance des Hamburger Live-Art-Festivals. Das will in diesem Jahr das Zusammenspiel von Choreografie und Protest untersuchen.
"Was hier passiert ist natürlich kein echter, echter Aufprall, sondern eine inszenierte Choreografie, ein inszenierter Protest. Omer Krieger hat verschiedene strukturelle Elemente genommen von verschiedenen Protesten, Gezi-Park, Taksim-Platz, in Ost-Jerusalem und hat sie nach ihrer Struktur, nach ihrer Ideologie, quasi ideologischen Kontext und nach ihrer Choreografie analysiert und hat diese verschiedenen Ebenen übereinander gelegt - und das sehen wir heute",
erklärt die Kuratorin Melanie Zimmermann.
In der Performance des israelischen Künstlers Omer Krieger fliegen inzwischen Steine. Vermummte Demonstranten, allesamt sehr jung und oft weiblich, attackieren die Polizisten. Die weichen in der Choreografie immer wieder zurück. Sie sind keineswegs nur die Täter, sondern immer wieder auch die Angegriffenen. Menschen, die ihren Körper der Staatsmacht zur Verfügung stellen – und an vorderster Front den Zorn der Massen ertragen müssen.
Gewalt und Entspannung
Um eine ganz andere Auseinandersetzung mit dem Körper geht es in der Installation "Hamamness", die ebenfalls zum Festivalprogramm gehört. Dahinter verbirgt sich ein voll funktionstüchtiges türkisches Bad aus Plastik-Zelten. Wie eine Ufo-Fata-Morgana sehen die aus. In einer riesigen, dunklen Halle leuchten sie in bunten Farben von innen heraus. Das Hamam ist jedoch auf Kampnagel keineswegs als Wellness-Einrichtung zu verstehen.
"Beim 'Hamamness' geht es darum, tatsächlich über einen körperlichen Zustand, der erzeugt wird, also dieses Öffnen der Poren, sich ein bisschen fallen zu lassen. Das Ganze ist ja wie so eine Art Versuchsaufbau, um so kulturelle Verpanzerungen zu lösen",
sagt die Kuratorin Nadine Jessen, die sich bereits in ein riesiges Handtuch eingewickelt hat.
Wer das Plastik-Raumschiff betritt, erlebt leicht bekleidete Körper in größtmöglicher Entspannung. Ein radikaler Szenenwechsel ist das, nach der inszenierten Gewalt auf dem Bahnhofsvorplatz.
"Ich habe überhaupt kein Zeitempfinden mehr. Ich könnte ewig hierbleiben. Ich studiere bildende Kunst, arbeite. Ich bin Gärtnerin und Bloggerin und Performerin. Ich grabe aber vor allem in der Erde."
Leicht benommen klingen die schwitzenden Gäste, nach Stunden der kollektiven Entspannung. Jetzt sind sie bereit für neue, diesmal intellektuelle Abenteuer.
Verwundbare Körper im Protest
Wieder raus aus dem Schwitzzelt trifft der Besucher mitten im Kampnagel-Foyer auf ein öffentliches Close Reading. An einem viereckigen Tisch bespricht die Architektin und Städtebauforscherin Nina Gribat einen Text von Judith Butler. Wer will, kann sich dazu setzen und frisch entspannt noch einmal einen anderen Blick auf die inszenierten Krawalle vor dem Bahnhof werfen. Diesmal aus einer Gender-theoretischen Perspektive.
"Also das Interessante an Butlers Text ist, dass sie über Körper im Protest nachdenkt, von einem Konzept der Verwundbarkeit ausgehend. Und wenn man landläufig über Protest nachdenkt, denkt man ja über aktive Körper nach, die sich in einen Kampf begeben. Da denkt man nicht unbedingt an Körper, die jetzt Unterstützung brauchen oder die verwundbar sind usw. und das finde ich einfach einen sehr spannenden Punkt."
Nackte, verletzliche Körper, prügelnde Polizisten und Steine werfende Demonstranten. Alles verschmilzt beim Live-Art-Festival, das mit den unterschiedlichsten Formen von Performance spielt – und dabei auch mal ein Risiko eingehen will, wie die Kampnagel-Leiterin Amelie Deuflhard betont.
"Naja, Live-Art ist erstmal unser experimentellstes Festival, eigentlich überhaupt das experimentellste Programmformat, was wir haben, immer zum Saison-Abschluss. Ja, das ist wirklich, ich würde mal sagen, ein radikales Performance Festival."
Das Risiko suchen, zwischen türkischem Hamam und gewalttätigen Protesten, zwischen wissenschaftlicher Theorie und praktischem Schwitzen. Auch wenn die einzelnen Performances teilweise etwas simpel gestrickt daherkommen, in der Summe entstehen durchaus faszinierende Bezugspunkte. Verbinden sich die Gegensätze zwischen den gepanzerten Polizeikörpern und der kollektiven Entspannung zu einem großen Ganzen. Einer Geschichte der Körper und des Protestes, die noch bis zum 13. Juni fortgesetzt wird.