Engel aus Wien
Von diesem Saal schwärmen sogar die Wiener Philharmoniker. Warum also nicht ein rein Wienerisches Programm spielen im neuen Musikzentrum Kattowitz? Das dachte sich der Chefdirigent des Nationalen Sinfonieorchesters des Polnischen Rundfunks, der Münchner Alexander Liebreich, und schuf ein Programm mit zwei Sinfonien von Franz Schubert, dem Violinkonzert von Alban Berg und den Orchesterstücken op. 6 von Anton Webern.
Das Orchester, das vom Polnischen Staat und Polskie Radio getragen wird, hat im vergangenen Herbst erst mit großem Stolz und unbändiger Freude seinen neuen hochmodernen Saal bezogen. (Von dem die Wiener Philharmoniker sagen, er sei der beste Konzertsaal Europas, nach dem Wiener Musikverein selbstverständlich!) Die Akustik dort ist grandios und bietet die besten Voraussetzungen für hochkarätige Konzerte. Für diesen Abend ist die deutsche Geigerin Isabelle Faust eingeladen.
Zwei Sinfonien Franz Schuberts bilden den klassisch-romantischen Rahmen dieses Wiener Programms. Seine dritte eröffnet den Abend, ein leichtes spielerisches Stück, das den Geist Italiens in die Habsburger Metropole zu holen versuchte. Sie gehört zu den wenigen Orchesterstücken Schuberts, die er selbst im Konzertsaal gehört hat - in diesem Fall dürfte er an der ersten Aufführung durch ein Amateurorchester sogar selbst mitgewirkt haben. Ganz typisch "Schubertsch" unerkannt geblieben ist die Genialität des Komponisten in seiner rätselhaft "Unvollendeten" h-Moll-Sinfonie. Neben der "großen" C-Dur-Sinfonie ist sie heute das meistgespielte Werk des Wiener Meisters.
Unvollendet blieb auch das Leben der Manon Gropius, der Tochter des Architekten Walter Gropius und der Mahler-Witwe Alma Schindler. Und genauso wie Schubert seine Sinfonien zum Großteil nie gehört hat, konnte auch Alban Berg die Uraufführung seines Violinkonzerts nicht mehr miterleben. Das hatte er eben jener mit 18 Jahren gestorbenen Künstlertochter gewidmet und deshalb mit dem Titel "Dem Andenken eines Engels" überschrieben. Es wurde sein letztes vollendetes Werk. Es ist ein bis heute bezauberndes und bewegendes Werk, das deshalb fasziniert, weil es schwebend zwischen mehreren Bach-Zitaten und -Anklängen, Wiener Walzerseligkeit, Kärntner Tanzbeschwingtheit und avantgardistischer 12-Ton-Technik oszilliert.
Keiner hat so wie Anton Webern, der dritte Wiener im Bunde dieses Kattowitzer Abends, so konsequent und zugleich lyrisch die "Errungenschaften" der Zweiten Wiener Schule umgesetzt: Vor allem das strenge Gebot der Grundtonlosigkeit und die Sparsamkeit in klanglichen Mitteln. Die sechs Orchesterstücke von 1909 sind - für Webernsche Verhältnisse - von eloquenter Länge mit ihren insgesamt zwölf Minuten Dauer.
Das Nationale Rundfunk-Sinfonieorchester (NOSPR) ist das polnische Spitzenorchester mit einer nicht unbedeutenden Geschichte. In Warschau wurde es in den 20er Jahren gegründet. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist es nach Oberschlesien umgezogen. Der damalige Chefdirigent Grzegorz Fitelberg gehörte zu den prägendsten Gestalten des polnischen Musiklebens im 20. Jahrhundert.
Kattowitz ist eine überaus dynamische Stadt im Wandel. Einst bildete sie mit den umliegenden Städten den oberschlesischen Ruhrpott mit unzähligen Zechen, Kraft- und Stahlwerken. Der Strukturwandel macht sich auch hier bemerkbar. Unter dem Motto "Kultur statt Kohle" läuft ein ehrgeiziges Umbauprogramm in allen Bereichen. Die Oberschlesier setzen auf Kunst, Bildung und Sport. Vergangenen Sommer fand hier die Volleyball-Weltmeisterschaft statt und brachte der polnischen Nationalmannschaft den Titel. Auch die Musikerinnen und Musiker der Stadt spielen in der Ersten Liga: Außer dem Nationalen Rundfunksinfonieorchester gibt es in der Stadt auch noch die Schlesische Philharmonie, ein weiteres bedeutendes Orchester.
Mit diesem Konzert, das wie in Polen üblich, bereits um Halbacht Uhr abends beginnt und bei uns live-zeitversetzt zu hören ist, knüpft das NOSPR nahtlos an unser Programm vom Vorabend an - das Berg-Fest der Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim brachte ausschließlich Werke Alban Bergs. Jetzt findet es mit dem Violinkonzert Bergs und Werken seiner Wiener Kollegen Schubert und Webern quasi eine Erweiterung - Wien bleibt aber immer noch Wien, egal ob die Musik aus dieser Stadt in der (alten) Berliner Philharmonie oder dem (neuen) Musikzentrum Kattowitz erklingt.
Live zeitversetzt aus dem Musikzentrum Kattowitz
Franz Schubert
Sinfonie Nr. 3 D-Dur
Alban Berg
Konzert für Violine und Orchester "Dem Andenken eines Engels"
Anton Webern
Sechs Stücke für Orchester op. 6
Franz Schubert
Sinfonie Nr. 7 h-Moll "Unvollendete"
Isabelle Faust, Violine
Nationales Sinfonieorchester des Polnischen Rundfunks (NOSPR)
Leitung: Alexander Liebreich