Gayle Tufts ist deutsch-amerikanische Entertainerin, Autorin, Sängerin, Kommentatorin und „Germany’s best-known American“ (Stern). Sie lebt seit 1991 in ihrer Wahlheimat Berlin.
Live-Kultur in der Krise
„Alles ist wieder offen und wir dürfen spielen“, erinnert die deutsch-amerikanische Entertainerin Gayle Tufts das potenzielle Publikum. © imago / YAY Images / photochecker
Liebes Publikum, bitte melde dich!
Man könnte meinen, das Publikum würde in Scharen zu Kulturevents strömen – nach zwei mageren Pandemie-Jahren. Aber selbst prominente Künstlerinnen und Künstler treten aktuell in halb leeren Hallen auf. Ein Hilferuf der Entertainerin Gayle Tufts.
Liebes Publikum!
Hey, wie geht’s? Lange nicht gesehen, hoffe, es geht euch gut! Eine kleine Frage: Wo seid ihr? Ich erwarte euch seit Monaten, aber ihr seid nirgendwo zu finden. Langsam mache ich mir Sorgen.
Ich fühle mich wie Jörg Wontorra auf Sat.1 - Bitte melde dich! Während der Lockdowns haben wir uns schrecklich vermisst.
Jetzt ist der Entertainment-Entzug endlich vorbei! Alles ist wieder offen und wir dürfen spielen – vor vollen Häusern! Es ist Zeit to hit the road and get back on Tour! München, Bremen, Dresden here I come! Zumindest theoretisch.
Times are tough in the Unterhaltungsbranche. Die „Frankfurter Rundschau“ meldet, dass zurzeit 65 Prozent aller geplanten Veranstaltungen abgesagt werden. Wir dürfen – aber wir können nicht – weil zu wenig Karten verkauft sind. Die Veranstaltungen rentieren sich nicht mehr.
Wir Künstler geben alles
Große Mega-Über-Events platzen aus allen Nähten. Aber für jede Helene Fischer mit 130.000 „Es-is-mir-scheißegal-wie-viel-Geld-dieses-Ticket-kostet-nimm-mein-Geld-ich-brauche-meine-Helene“-Zuschauern, gibt es zehn verzweifelte Kleinkünstler oder Comedian oder Singer/Songwriter mit 23 höflichen Menschen im Publikum. Wir Künstler geben nach wie vor alles, aber nach Abzug der Kosten bleibt für uns nichts.
Ich freue mich, wieder arbeiten zu dürfen, aber in Theatern, in denen ich früher vor 500 begeisterten Zuschauer gespielt habe, bin ich überglücklich, wenn ich 100 schaffe. Und ich bin nicht allein. Selbst populäre Bands wie Revolverheld müssen ihre Tournee absagen.
Ich war neulich im Frühstücksraum eines Hotels in Norddeutschland, als ich einen geschätzten Kollegen traf. Er ist ein begabter, angesagter, gut aussehender junger Mann und ein talentierter Solo-Künstler – ein richtiger Sonny Boy. Aber an diesen Morgen sah er so traurig aus wie Eliot, als E.T. ihn und die Erde verließ.
Er hatte am Abend vorher vor 40 Leuten gespielt und war jetzt unterwegs nach Mannheim, wo der Zuschauerzuspruch noch sehr dürftig ausfiel und es unsicher war, ob der Gig überhaupt stattfinden würde.
Mit selbstgeschmierten Stullen auf Tour
Das verstand ich gut, weil ich am Ende des Monats im selben Theater spiele. Und ich weiß auch noch nicht, ob ich spielen darf. Der Veranstalter versucht jetzt, Tickets für zehn Euro zu verkaufen. Das füllt vielleicht den Saal, aber reduziert meine Gage drastisch – bei gleichem Aufwand.
Ich probiere, meine Kosten zu reduzieren, und bin nachhaltig bis zum Abwinken. Ich schmiere meine Stullen selber, schleppe meine Kostüme und habe meine eigenen Teebeutel dabei. Wir reisen ohne Techniker, Tänzer und Band – und liefern trotzdem eine super Show - genau wie am Anfang meiner Karriere – it’s back to 1987!
Mein Pianist geht mit dem Sound-Mensch die Stichworte durch und ich mit dem Lichttechniker, wenn sich das Theater überhaupt noch einen zweiten Techniker leisten kann. Wie in der Gastronomie oder beim Friseur gibt es im Theater Personalmangel. Viele haben keine Tresenkräfte mehr, was auch ein Stimmungskiller ist: 40 durstige Zuschauer brauchen really a drink...
You have the Power!
I try not to take it personally. Nicht ich bin plötzlich viel schlechter geworden – es betrifft alle – in allen Sparten.
Wir leben in einer – wie kann ich das auf gut Deutsch sagen – crazy fucking Welt. Wir haben alle das Gefühl, dass wir unfreiwillige Statisten in einem Roland-Emmerich-Blockbuster sind: „Independence Day“ oder „The Day After Tomorrow“. Wer hat das Geld, die Zeit, die Energie, die Lust, raus in die Welt zu gehen?
Ich verstehe das! Ich möchte mich auch auf der Couch unter einer dicken Decke verstecken – mit Toffifee und Rosé – und der ersten Staffel „Bridgerton“ in Endlosschleife. Ich habe es für ein paar Wochen gemacht, aber es hilft nicht! Wir brauchen einander. You have the power, liebes Publikum! Bitte melde dich!