Weitere Informationen zu der Performance "RED" finden Sie auf der Homepage.
Kämpfende Frauen als Kulturgut
Während der chinesischen Kulturrevolution sollte die Modelloper "Das rote Frauenbataillon" die Menschen ideologisch mit in die neue Zeit führen. Mit ihrem "Living Dance Studio" nimmt Choreographin Wen Hui diese nun als Ausgangspunkt für ihre Performance "RED" - und schaut damit auch auf das China von heute.
Kollektives Erinnern beginnt, wenn die vier Tänzerinnen zum Leben erwachen, die da wie eingefroren auf das Publikum warten – rot ist der Vorhang, vor dem sie stehen, und ideologisch noch viel röter sind die Szenen, die in Videos und Einzelbildern auf diesem Vorhang eine der Legenden der chinesischen Kulturrevolution beschwören: "Das rote Frauenbataillon", eines jener "Modellstücke", die Mao Zedongs Gattin Quiang Quing höchst persönlich kreierte, um Schluss zu machen mit den Traditionen von Schauspiel, Oper und Tanz in China. Das ist gut ein halbes Jahrhundert her – aber der politische Um- und Aufbruch jener Epoche ist ja auf unterschiedlichste Weise präsent in den Köpfen der Überlebenden wie der Nachgeborenen. Das 1994 gegründete "Living Dance Studio" der Choreographin Wen Hui nutzt "Das rote Frauenbataillon" als Ausgangspunkt für den aktuellen Blick auf Leben und Kunst im China von heute.
Nicht erlittene Leid ist Thema, sondern Kultur
Die Choreographin selbst ist eine im Quartett; Momentaufnahmen aus dem monumentalen Werk stellt sie mit den Partnerinnen nach. Hinter ihnen hat sich der Vorhang geöffnet, und auf der Video-Leinwand erzählen Künstlerinnen und Künstler in Interviews von der Rolle, die das legendäre Stück für sie gespielt hat. Die älteste war noch in der Uraufführung dabei, für andere war "Das rote Frauenbataillon" ein Lebensbegleiter – präsenter als dieses war kein Stück sonst auf Chinas Bühnen seit der Uraufführung 1964. Übrigens erzählen die Zeitzeugen ohne Urteil und Ressentiment – nicht das in der Kulturrevolution massenhaft erlittene Leid ist das Thema, sondern ein Stück Kultur und eben Theater und dessen Rolle im Werden vom eigenen Ich.
Wer Kommentare sucht, findet sie eher in den oft schmerzhaften Tanz-Miniaturen vom Quartett um Weh Hui – geschunden und voran getrieben zugleich dreht und wendet sich der Körper in diesem kollektiven Erinnern. Und gegen Ende gelangen dann auch die stolzen Zeitzeugen, deren Leben ja oft erst wichtig wurde durch das Stück, zu Forderungen an die eigenen Rolle, kulturell und politisch, im staatskapitalistisch gewendeten China von heute – und sie entscheiden, etwa in regierungsunabhängigen, gar kritischen Organisationen aktiv zu werden.
Wirklichkeit des Erinnerns hat Kraft genug
Aber "Red" ist kein Stück Widerstand; Wen Hui beschwört den Schritt davor: die Beschäftigung mit der eigenen historisch-kulturellen Rolle eben. Und das "Living Dance Studio" will eigentlich auch kein Profi-Theater sein, sondern setzt programmatisch (und auch an diesem Abend) auf die Kraft des authentischen Dokuments. Poesie ist weniger wichtig – die Wirklichkeit des Erinnerns hat für Wen Hui Kraft genug. Den aktuell grassierenden "Bürgerbühnen" in deutschen Theatern ist diese chinesische Bewegung der Moderne sehr nahe.
Der Abend in Jena (wo das "Kunstfest" aus der Nachbarstadt Weimar jetzt wieder gastiert nach langer Pause) ist unbedingt anstrengend; ein paar zusätzlicher Augen wäre nötig, um die Bewegung des Quartetts, die Video-Gespräche und deren meist am oberen Rand flimmernde Übertitelung zugleich angemessen wahrnehmen zu können. Und wirklich viel über das Ensemble, die Choreographin und das Material ist davor oder danach im opulenten Buch über "Zeitgenössisches Theater in China" nachzulesen, das der Berliner Alexander-Verlag gerade heraus brachte (s. auch DLR Kultur "Rang I" vom 5.8.2017). Beim Blick auf das China von heute, vermittelt vom "Kunstfest", lernen wir immer noch dazu. Und dieses Lernen hat noch lange kein Ende.