Ljudmila Ulitzkajas Oper über "Doktor Haass"

Deutscher Arzt wird in Russland als Nationalheld gefeiert

Tenor Witali Fomin probt in der Helikon-Oper Moskau die Titelrolle in der Oper "Doktor Haass" dirigiert von Waleri Kirjanow.
Tenor Witali Fomin probt in der Helikon-Oper Moskau die Titelrolle in der Oper "Doktor Haass" dirigiert von Waleri Kirjanow. © picture alliance / dpa / Friedemann Kohler
Von Gesine Dornblüth |
Ljudmila Ulitzkaja ist eigentlich als Romanautorin bekannt - nun hat die 73-Jährige ein Opernlibretto geschrieben. Im Zentrum steht eine historische Figur, der deutsche Arzt Joseph Friedrich Haass. Für seine Wohltaten für Arme wird er in Russland bis heute verehrt. Derzeit wird "Doktor Haass" in der Moskauer Oper gezeigt.
Rund fünfzig Orchestermusiker, dazu mehr als ein Dutzend Chorsänger und eine Hand voll Solisten – bei "Doktor Haass" stehen bald so viele Künstler auf der Bühne wie Zuschauer in den historischen Saal der Moskauer Helikon-Oper passen. Der Komponist Aleksej Sergunin, 27 Jahre, wollte eine musikalische Wechseldusche schaffen. Das ist ihm gelungen, die Musikstile wechseln ebenso schnell wie die Szenen.
Gleich zu Beginn zieht der Chor als Sträflingszug auf einem Steg am Publikum vorbei, in Lumpen gekleidet. Die Sänger verziehen die Gesichter, klagen über Staub und Ketten.
Dann tritt der Chor in historischen Kostümen der Zarenarmee im Krieg gegen Napoleon auf, blut- und schlammverschmiert. Dann wieder gibt er eine mondäne Reichengesellschaft, die sich in Abendrobe zuprostet. Doktor Haass, die historische Figur, bettelt bei ihnen um Almosen für die Verbannten, rutscht auf den Knien über den Boden und sammelt die hingeworfenen Kopeken ein. Die Feiernden beschweren sich: Er verderbe die Stimmung, der Philanthrop.
Das alles wirkt in dem Realismus mitunter unfreiwillig komisch. Doch Regisseur Denis Azarow verteidigt das Konzept. Er zählt zu den progressiven Nachwuchsregisseuren der Moskauer Szene und hat auch schon an der Komischen Oper in Berlin gearbeitet.
"'Doktor Haass' ist eine zeitgenössische Oper. Wenn du zeitgenössisches Material bearbeitest, musst du den Autoren ausdrücken, statt ihn zu interpretieren. Sonst verstehen die Zuschauer den Inhalt nicht."

Hausarzt der Oberschicht widmet sich den Armen

Der Inhalt der Oper ist schnell erzählt: Der junge Arzt Joseph Friedrich Haass kommt nach Russland und sieht dort einen Zug von Gefangenen auf dem Weg nach Sibirien. Als Hausarzt der Oberschicht führt er zunächst ein prunkvolles Leben. Er nimmt am Krieg gegen Napoleon teil, wird geläutert und widmet sich fortan den Armen und Gefangenen. Er stirbt in Moskau und wird vom Volk beweint. Haass lebte im 19. Jahrhundert. Die Autorin des Librettos, die 73-jährige Ljudmila Ulitzkaja, hörte bereits als Kind von ihm.
"Seinerzeit war Haass in Russland eine Art Nationalheld. Das ist aber lange her, die Sowjetmacht mochte keine Wohltäter. In der Sowjetunion wurde deshalb nicht über ihn geredet. Aber meine Familie wusste, wer Haass war. Denn meine Vorfahren sind auf dem deutschen Friedhof in Moskau beerdigt. Als Mädchen habe ich mich gewundert, dass an seinem Grab immer Blumen lagen."
Die Handlung der Oper hat Ulitzkaja zeitlos angelegt. So wird im Text auch Genosse Stalin angesprochen. Regisseur Azarow verstärkt das noch, indem er zum Beispiel große Schwarz-Weiß-Porträts von Gulag-Häftlingen an die Wand werfen lässt.
"Wir wollten den Stoff nicht an eine einzelne Epoche binden. Die Geschichte unseres Landes beruht leider auf dem permanenten Leitmotiv der Unfreiheit."

Vorbild des Doktoren Haass: Jesus Christus

Es reicht bis in den heutigen Tag. Die Autorin Ulitzkaja zählt zu jenen, die die russische Regierung deshalb offen kritisieren. Und so wirken manche Passagen der Oper sehr aktuell. Zum Beispiel der Dialog des Arztes Haass mit einem hohen orthodoxen Geistlichen. Die Begegnung hat, Biographen zufolge, wirklich so stattgefunden. Der Würdenträger warf dem Doktor vor, er sei verrückt, sich um Gefangene zu kümmern. Wer im Lager sitze, habe das schließlich verdient. Haass hielt dem Geistlichen entgegen, der habe wohl Christus vergessen.
Auch heute steht die offizielle russisch-orthodoxe Kirche in der Kritik, weil ihre Hierarchen die repressive Politik der Regierung unterstützen.
Das Team um Ulitzkaja will mit der Oper vor allem junge Leute ansprechen. Die Episoden wirken wie Videoclips. Das ist abwechslungsreich und lässt die knapp einstündige Aufführung noch kürzer erscheinen. Für einen Einblick in die Seelenlage des deutschen Doktors bleibt da kein Raum. Ungewöhnlich für die Autorin Ulitzkaja, die sonst Romane schreibt:
"Ich wollte dies mal kein psychologisches Werk schreiben, im Gegenteil: Die Geschichte ist wie eine Prozession konzipiert. Sie wird lediglich von Episoden mit Haass unterbrochen. Es ist eine Prozession der Gefangenen aller Zeiten und aller Völker. Wir befinden uns eigentlich immer noch in einem Gefängnis."
Vier Vorstellungen sind bisher geplant. Ljudmila Ulitzkaja hat ein Angebot erhalten, das Drehbuch für einen Film über Haass zu schreiben.
Mehr zum Thema