Hans Rusinek ist Transformationsberater und Autor. Zusätzlich engagiert sich der Volkswirt und Philosoph beim thinktank 30 des Club of Rome, wo er sich mit wirtschaftsethischen Fragen auseinandersetzt. Daneben verfast er regelmäßig Beiträge zum "Politischen Feuilleton" im Deutschlandfunk Kultur.
Wir sind jetzt alle ein Bild von Edward Hopper
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Viele haben sich eine Auszeit vom stressigen Alltag gewünscht. Jetzt ist sie da -– doch unter dem Vorzeichen des Coronavirus wird Zeithaben zur Einsamkeit. Für den Philosophen Hans Rusinek zeigt sich: Das Einsamsein gehört zum Menschsein.
Ganz neu ist der Blick, mit dem ich in diesen Tagen auf die Gemälde von Edward Hopper schaue. Ich schaue auf die Frau, die alleine in dem von der Sonne beleuchteten Zimmer sitzt und in die Ferne blickt. Ich schaue natürlich auf seine berühmten "Nighthawks", die Nachtschwärmer, die inmitten der dunklen Stadt an der strahlenden Bar sitzen und dabei so seltsam voneinander entrückt sind, dass ich sofort an "social distancing" denke.
Edward Hopper verbrachte sein Leben an der US-Ostküste – mit zwölf Jahren war er bereits 1,80 groß, die anderen Kinder nannten ihn spottend "Gras-hopper", mit 15 schreinerte er sich voller Hingabe ein kleines Boot und fuhr damit weit raus auf das Meer, und erst mit 37 sollte er seine erste eigene Ausstellung haben. Ich glaube, Hopper war ein Vertrauter der Einsamkeit.
Ich-Botschaften und Duftmarken
Jetzt sind wir alle in einem Hopper Bild, postete Michael Tisserand auf Twitter.
Aber wir sind keine Vertrauten der Einsamkeit, sie macht uns Angst. So sehr, dass wir in normalen Zeiten die Gesellschaft der Geschwätzigen immer vorziehen. So sehr, dass alles social sein muss, und wir auf allen Kanälen zeigen müssen, dass wir da sind und Ich-Botschaften wie Duftmarken hinterlassen. Einsamkeit will vermieden werden, kaum ein Preis ist dafür zu hoch.
Einsamkeit ist Freiheit
Zeitgleich zu Hopper dachten auch zwei andere Personen an der Ostküste über Einsamkeit nach: In Harvard beschäftigte sich der vom Rechtsanwalt zum Soziologen konvertierte David Riesman mit dem Fehlen von Einsamkeit. Er zeigte in einer großen Studie, dass die meisten Amerikaner sich nicht länger von eigenen Überzeugungen leiten ließen. Stattdessen denkt der sogenannte außengeleitete Typus ununterbrochen an die Erwartungen seiner Umgebung und daran, im Wettbewerb mit den Nachbarn um den neuesten Kühlschrank oder das schönste Auto niemals zurückzufallen.
Die dritte Person, die über Einsamkeit nachdachte, war derweil in New York, wo sie nach schmerzhaften Jahren der Staatenlosigkeit endlich Staatsbürgerin wurde. Für Hannah Arendt war Einsamkeit Freiheit: Alle, die totalitäre Systeme ertragen mussten, so schreibt sie, können bezeugen, dass diese jede Einsamkeit abschaffen wollen, und dass "in dem Augenblick, da ein Minimum davon nicht mehr garantiert ist, jegliche Gewissensform verschwinden wird".
Einsamkeit gehört zum Menschsein
Und nun, 70 Jahre später, sind wir alle in Einsamkeit zwangsversetzt: Wie gerne würde ich mit Arendt, Hopper und Riesmann dazu zusammensitzen, doch ein solcher Gesprächskreis wäre selbstverständlich gegen die Regeln des "social distancing".
Was würden sie dazu sagen, dass wir uns sofort in eine Ablenkung von uns selbst stürzen, in Netflix-Bingewatching oder Twitter-Bubbles? Vielleicht würden sie darüber reden, dass wir unser Glück zu sehr von äußeren Gegebenheiten abhängig gemacht haben, die dem wahren Glück oft im Weg standen.
Unsere jetzige Einsamkeit hätte da einen Offenbarungscharakter – keinen angenehmen aber einen wertvollen. Wir kämen vielleicht darauf, dass Einsamkeit zum Menschsein gehört: Wir können unsere Perspektive auf das Leben nur begrenzt anderen mitteilen, nie tatsächlich abgeben. Je länger wir darüber nachdachten, desto entschiedener würden wir Einsamkeit nicht allein als Unheil betrachten.
Momente der Selbstkalibrierung
Zum Schluss würde Hopper uns dann verraten, dass sein "Nighthawks"-Bild in einer ähnlichen Zeit entstand. Es waren die Wochen nach Pearl Harbor, überall wurden Verdunklungsübungen durchgeführt, kaum einer traute sich auf die Straße.
Aus dieser Erfahrung heraus malt Hopper Momente der Selbstkalibrierung von Menschen, denen er eine unglaubliche Würde gibt und eine tiefe Hoffnung. Wie auf einem seiner geliebten Boote harren die einsamen Trinker deshalb in dem verdunkelten Meer der Stadt aus: Sie sind einsam, ja – aber: nicht alleine; es ist dunkel, aber wir leuchten.