"Lob des Realismus" von Bernd Stegemann

Provokativ demontierte Theater-Theorien

Abendliche Aufnahme der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin (im Jahr 2007).
Das Theater als Ort der gesellschaftlichen Einmischung - Stegemann ist selbst Dramaturg an der Berliner Schaubühne. © picture-alliance / ZB / Soeren Stache
Von Michael Laages |
Bernd Stegemann ist Professor an der Berliner Hochschule "Ernst Busch" und Dramaturg an der Schaubühne. In seinem Buch setzt er sich mit der Einmischung der Künste - vor allem des Theaters - in die Gesellschaft auseinander. Er wagt es, über zwei Jahrzehnte vermeintlicher Innovation im Theater in Frage zu stellen.
Wer seinen Brecht noch nicht vergraben hat in der Kiste mit den ideologisch vermeintlich erledigten Fällen, der muss schon bei Bernd Stegemanns Titel-Wahl hellhörig werden: "Lob des Realismus". Sang nicht "Die Mutter" im Brecht-Stück nach dem gleichnamigen Roman von Maxim Gorki und zu Hanns Eislers Musik das "Lob des Kommunismus"?
Das war um 1930 herum. 85 Jahre später erinnert Stegemann daran, dass die Fragen, die am Beginn von Brechts Hinwendung zu Partei und Barrikade standen, heute unter stark veränderten Bedingungen in jedem Fall noch immer und immer wieder gestellt werden müssten; eben wie neu. TINA jedenfalls, die Theorie von der Alternativlosigkeit (TINA steht für "There is no alternative!"), will Stegemann ad absurdum führen.
Künstler sollten klarer Position beziehen
Der Kapitalismus, so analysiert er, sei zwar ein ganz anderer heute, doch zugleich sortiere er die Menschen, die in ihm leben (also fast alle), im Grunde noch radikaler als früher in Klassen ein – und gerade von Künstlerinnen und Künstlern fordert Stegemann, klar Position zu beziehen, die eigene Klasse klar zu definieren. Immerhin geht der neoliberale Kapitalismus von heute gerade im Bereich der Kreativ-Wirtschaft unter dem Tarnmantel der "Selbstverwirklichung" mit einem Maß an Selbst-Ausbeutung einher, dass - so Stegemann - die Ausbeutung von Arbeitern und Angestellten weit übertrifft. Welcher Klasse also gehören Kulturschaffende an? Die Antwort, legt der Autor nahe, ist der erste Schritt zur realistischen Haltung. Sie wiederum ist das Fundament für den neuen Realismus in der Kunst.
An Statements historischer Geistesgrößen entlang diskutiert Stegemann diese Fragen; Maxim Gorki, Georg Lukasz und Bert Brecht, der Philosoph Markus Gabriel, Slavoj Zizek und mehrere Denker der kulturellen Postmoderne zieht Stegemann so in den Diskurs. Vom "Realismus der bürgerlichen Klasse" und vom "Realismus der Situation" (letzterer stark am konkreten Theater orientiert) handeln zwei längere Kapitel, und unter dem Titel "Berichte aus der Arbeitswelt" nimmt Stegemann fünf Stücke und deren Chancen für zeitgenössischen Realismus ins Visier: Ibsens "Volksfeind", "Die Sorgen und die Macht" von Peter Hacks, Kathrin Rögglas kollektive Angestellten-Monologe unter dem Titel "wir schlafen nicht", "Die Kontrakte des Kaufmanns" von Elfriede Jelinek und "Kill your Darlings" von Rene Pollesch.
Stegemann teilt deftig aus
Über diese pointierte (zuweilen auch polemische) Neu-Bestimmung dessen, was widerständig wirken könnte in der Kunst von heute, wäre sicher fruchtvoll, aber wohl nur unter akademischen Insidern gestritten worden – die Aufregung um Stegemann ist woanders entstanden. Mit einiger Schärfe nimmt der Theater-Professor den kompletten Komplex postmoderner Performance-Bemühungen aufs Korn; die Postmoderne selber habe mit der allgegenwärtigen These, dass es in der neuen Unübersichtlichkeit Wahrheit und Entscheidungen gar nicht mehr geben könne, der Ideologie des Neoliberalismus immer nur in die Hände gearbeitet – weil die These jeden Widerspruch mittelfristig ausschließt. Und das Beharren auf künstlerischem Eigensinn bis zur völligen Unverständlichkeit habe im günstigsten Fall nur den jeweiligen Marktwert gesteigert. Haltung? Weltbild? Fehlanzeige. In anderen Fällen teilt Stegemann deftig aus – etwa gegen die "political correctness" der fundamentalistischen "blackfacing"-Debatte.
Und auch die jüngeren Bemühungen um das Authentische auf der Bühne verschleierten nur die Herrschaftsverhältnisse: Rimini Protokoll (wird nie erwähnt, ist aber gemeint), Bürgerbühnen oder Projekte von Volker Lösch, Senkrechtstarter wie der Schweizer Milo Rau und die ganze "re-enactment"-Mode – alles nur geistige Unterstützer für die Allgewalt neoliberaler Macht-Ausübung. Denn was nütze es, "Experten des Alltags" sprechen zu lassen, wenn nicht das System kenntlich wird, dass ihr Handeln und Nicht-Handeln bestimmt ...
Stegemann stellt schlicht über zwei Jahrzehnte vermeintlicher "Innovation" im Theater infrage - darüber will und wird die Szene lauthals mit ihm streiten. Aber sie trifft auf einen Autor, der provokativ, aber klug und schlüssig munitioniert ins Feld zieht: für den runderneuerten Blick hinter und unter die Oberflächen der Gesellschaft mit den Mitteln der Kunst.

Bernd Stegemann: Lob des Realismus
Verlag Theater der Zeit, Berlin 2015
212 Seiten, 18 Euro