Die großen Dienste der kleinen Chronisten des Fußballs
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Die Geschichte vom abstürzenden Trecker und die Erinnerung an die großen Fußballerfamilien im Ort - all das ist Teil der lokalen Sportgeschichte. Ein Besuch bei zwei Chronisten des kleinen Fußballs im Sauerland und in der Emilia-Romagna.
Am 22. August 1990 kam es im Sauerland am 5. Spieltag der Kreisliga A zu einem Spielabbruch. Rot-Weiss Titmaringhausen empfing Grün-Weiss Düdinghausen. 23 Minuten vor Ende der Begegnung verließen die Spieler auf Geheiß von Schiedsrichter Willi Mause den Platz. "Bei Spielabbruch stand es 2:1 für Titmaringhausen. Krankenwagen, Feuerwehr. Polizei kam nach etwa 20 Minuten."
So notierte es Schiedsrichter Mause im Spielbericht. Die Lokalpresse schrieb von einer Turbulenz in Titmaringhausen. Was war passiert? Ein Unwetter? Oder gab es gar Ausschreitungen?
"Es war ein Lokalderby zwischen zwei rivalisierenden Dörfern. Und das Spiel wurde abgebrochen aufgrund eines Treckersturzes auf den Platz. Zur Erklärung: Der Platz lag in einem Tal, oberhalb des Platzes führte eine Straße vorbei. Der interessierte Treckerfahrer schaute auf den Platz, und bevor er das Spiel beobachten konnte, lag er mit dem Trecker auf dem Platz. Das Spiel wurde abgebrochen. Er wurde Gott sei Dank nicht schwer verletzt. Und das war schon sehr spektakulär und einmalig."
Der Mann, der die Hintergründe so genau kennt, ist Günter Guntermann. Im Hautberuf ist er kein Historiker, sondern Kriminalkommissar im sauerländischen Winterberg. Er ist Fußballtrainer im Amateurbereich. Kreisliga und Bezirksliga waren die Spielklassen, in denen Guntermann noch bis vor Kurzem unterwegs war.
Geschichten aus mehr als 60 Jahren Sauerlandfussball
Der Treckersturz von Titmaringhausen: Erlebt hat Günter Guntermann ihn nicht persönlich. Aber er hat ihn recherchiert, ausgegraben aus einem Archiv. Die Geschichte hat er niedergeschrieben in einem Buch, das eine Hommage an den Fußball der Region im südlichen Westfalen ist, jener Gegend, in der Guntermann als Trainer wirkte. "Sonntags auf dem Platz", heißt es. Der Untertitel mutet zunächst kurios an: "Die Fußballgeschichte des Kreises Brilon von 1948 bis 2014".
Es ist ein einmaliges Dokument. Eine ganz besondere Form der Heimatforschung, die Guntermann da betrieben hat: Fast sieben Jahrzehnte regionale Fußballgeschichte hat er unter die Lupe genommen. Spezieller geht es auf den ersten Blick kaum. Aber Guntermann hatte einen Ansporn: "Motivation, das Buch zu erstellen, war eigentlich eine Umstrukturierung im Kreis Brilon. Der Fußballkreis fusionierte mit dem Kreis Meschede. Dadurch bedingt sind viele Funktionäre, viele Schiedsrichter, viele Vereinsvorsitzende, die jahrelang hier den Kreis geprägt haben, nicht mehr präsent. Das war die Motivation für mich, das Buch zu erstellen. Um die Zeit des Altkreises Brilon zu dokumentieren."
Es dauerte nicht lange, bis Günter Guntermann einen Verlag fand. Der in Brilon ansässige Podszun-Verlag, sonst spezialisiert auf Motorbücher, brachte das Buch heraus. In einer Auflage von 1200 Exemplaren. Gar nicht mal so viel, wenn man die große Anzahl von Vereinen im Sauerland bedenkt. Aber: Was für eine Arbeit, was für ein großes Gebiet, das Guntermann da abbilden wollte:
"Ja, der Altkreis Brilon geht in den östlichen Bereichen von Marsberg bis Olsberg, bis an die Grenzen von Bestwig, nach Winterberg herunter in Medebach, Hallenberg, das sind die Grenzbereiche, die dann an Hessen grenzen, nach Korbach rüber. Und von der Bevölkerungsstruktur her kann man gar nicht sagen, wie viele Leute das sind, aber ich schätze mal, das waren so 100.000 Leute in dem Altkreis."
2000 Kilometer den Geschichten hinterher
Das Sauerland ist eine dünn besiedelte Region. Es ist ländlich geprägt, aber es gibt auch viele mittelständische Betriebe. Die Distanzen zwischen den Ortschaften sind mitunter groß. Günter Guntermann sagt, dass er gut 2.000 Kilometer während der Recherche mit dem Auto zurückgelegt hätte. Anders kommt man hier nicht voran, so Guntermann: "Aber das war schon enorm, insbesondere weil der Kreis auch doch flächenmäßig recht groß ist, und Entfernungen von 50, 60, 70 Kilometern zu den Vereinen, teilweise musste man mehrfach hinfahren, weil man die Leute nicht angetroffen hat, das war schon enorm. Und das waren insgesamt so 60, 70 Vereine."
Ein Spitzenspiel in der Landesliga. Der SV Brilon trifft auf Gerlingen, im Stadion an der Jakobuslinde. Für die Fußballfreunde ein großer Tag, denn es geht um die Tabellenführung. 300 Zuschauer sind gekommen. Für Guntermann ist das Stadion eine Art Wohnzimmer. Am Rande trifft er Funktionäre und Spieler, die er früher einmal trainiert hat. Man kennt sich.
Mehr als zwei Jahre lang hat Günter Guntermann an "Sonntags auf dem Platz" gearbeitet. Nach Feierabend, am Wochenende. Dokumente, Urkunden, Zeitungsausschnitte, Gespräche mit Beteiligten: all das war nötig, um ein Bild vom Fußballkreis Brilon zu zeichnen. Manchmal war wenig zu holen, selbst bei etablierten Vereinen gab es nicht immer ein ordentlich gepflegtes Archiv. Aber es gab auch leuchtende Beispiele, gerade dort, wo der Rechercheur sie nicht unbedingt erwartet hatte:
"Es war zum Beispiel ein kleiner Verein, SC Altastenberg, das ist ein Ortsteil von Winterberg, dieser Verein hatte auch nie höherklassig gespielt, sondern meistens in der zweiten oder sogar in der dritten Kreisklasse. Und sie haben akribisch jede Aufstellung und jedes Spiel handschriftlich dokumentiert und hatten ein hervorragendes Archiv. Das war schon bemerkenswert für diesen Verein. Das waren fußballinteressierte Laien, Chronisten, die halt bei jedem Spiel als Zuschauer präsent waren und die diese Dinge dann, Spielberichtsbögen und Spielberichte, handschriftlich gefertigt haben. Und haben die ordentlich archiviert."
Immer wieder Kontakt zu den alten Größen
Weil Guntermann über Jahrzehnte selbst im Altkreis unterwegs war, fiel ihm der Kontakt zu Spielern, Trainern und Funktionären leicht. Zu Leuten wie Karl-Heinz Ehlert zum Beispiel, auf den sich Guntermann gleich zu Beginn des Buches bezieht. Ehlert ist eine Koryphäe im sauerländischen Fußball. Über Jahrzehnte war er Kreisvorsitzender. 96 Jahre alt ist der rüstige Mann, der noch heute mit dem PKW unterwegs ist und noch immer hin und wieder zu Fußballspielen geht.
Er war maßgeblich beteiligt an jener Fusion, die Günter Guntermann zum Anlass für sein Buch nahm: den Zusammenschluss zweier Fußballkreise, von dem er als Trainer von Beginn an nicht überzeugt war. Von der Fusion versprachen sich manche Funktionäre Fortschritte, ein großer Verband, so dachte man, habe mehr Gewicht als zwei kleine. Aber gereichte dies beiden fusionierenden Verbänden wirklich zum Vorteil?
"Ja, dass nicht alle hier Hosianna und Amen geschrien haben, war uns klar. Aber im Großen und Ganzen, wenn man die Sitzungen ansieht, die in den Kreisen stattgefunden haben: Die Mehrzahl war für die Fusion."
Ehlerts Sicht ist eine eher nüchterne auf die Dinge. Man könnte sagen: Es ist die Sicht eines Funktionärs. Der setzt Guntermann in seinem Buch eine ganz andere Perspektive entgegen: "Mir ging es eigentlich darum, nicht unbedingt das abzubilden, was in den Vereinschroniken steht, sondern einfach die Vereine in ihrer Gesamtstruktur einzuordnen, welche Rolle sie im Alltag gespielt haben, sowohl sportlich oder auch von der Organisation her, oder von der Jugend, oder vom Damenfußball her. Wo sie hier im Kreis Akzente gesetzt haben und letztendlich ging es mir auch darum, alle Vereine, die hier in der Zeit jemals in dem Zeitraum aktiv waren, mit einzubringen."
Fußball ist für Guntermann somit ein Teil der Alltagskultur. Er lässt sich nicht auf blanke Ergebnisse reduzieren. Wenn Guntermann über die Gründungen erster türkischer Vereine schreibt, dann bildet er auch den zeitgeschichtlichen Wandel im Sauerland ab. Wer sich auf die Lektüre einlässt, der erlebt Überraschungen: Wer käme denn auf die Idee, dass sich im dünn besiedelten Sauerland unmittelbar nachdem der DFB im Jahr 1970 den Spielbetrieb für Frauen zuließ, erste Teams bildeten? Und zwar genug, um Wettbewerbe auszutragen. Ein Pokalspiel fand damals sogar vor 800 Zuschauern statt.
Ebenso hat es für Guntermann einen Wert zu dokumentieren, wie holprig der Pfad zum organisierten Fußball in dieser ländlichen Region überhaupt war: "Es wurde sehr viel improvisiert, aus Eigeninitiative, die Spieler mussten teilweise in den Anfangsjahren mit dem Fahrrad zu den Spielen fahren, sie mussten teilweise auf LKW-Transportflächen fahren. Das war alles sehr schwierig und das hat sich heute geändert. Und das ist eigentlich fast gar nicht mehr nachvollziehbar, wer das nicht weiß oder nicht erlebt hat, dass das früher so war."
Internationale Größen zu Gast
Wichtig sind ihm diese Geschichten vor allem deshalb, damit nicht vergessen wird, was alles getan werden musste, damit möglich wurde, was heute als selbstverständlich erscheint: Eine Struktur in einer ländlichen Gegend, die einen reibungslosen Spielbetrieb gewährleistet, die Dörfer miteinander verbindet.
Bei aller Bodenständigkeit stieß Günter Guntermann aber auch auf ein Bedürfnis nach Weltläufigkeit. Weil der Kreis sportlich betrachtet natürlich seine Grenzen hatte, musste die große, weite Fußballwelt eben ins Sauerland kommen. Dabei bewies ein Klub ein ganz besonderes Geschick:
"Was also interessant ist - die Recherchen beim TuS Medebach: Die hatten in den 70er-Jahren sehr häufig sehr bekannte Mannschaften, sogar Nationalmannschaften aus China und Bundesligamannschaften, die in Medebach spielten und Freundschaftsspiele absolvierten mit Riesenzuschauerresonanz. Das war schon ein Highlight, das so ein kleiner Dorfverein komplette Bundesligamannschaften hier hatte, es waren Duisburg, Schalke 04, Bielefeld und die chinesische Nationalmannschaft. Das wäre heute undenkbar, so Vereine hier aufs Dorf zu bekommen und gar nicht zu bezahlen."
Ein wenig Glamour also, der in klarem Kontrast steht zu einer anderen Geschichte, von der der schreibende Kommissar berichtet. Sie klingt fast so unglaublich wie die Episode vom Spielabbruch mit dem Traktor. Sportlich betrachtet ist diese sogar noch spektakulärer:
"Ich habe auch recherchiert in einem Dorf, 350 Einwohner, es ist ein Stadtteil von Medebach, heißt Deifeld und der Sportverein heißt SV Deifeld. Ein Phänomen. Der Verein hat es geschafft, von der Kreisliga bis in die Landesliga durchzumarschieren, in einem, in einem Stück durchzumarschieren. Und mit ausschließlich eigenen Spielern. In der Mannschaft standen vier Geschwisterpaare. Die Spieler waren alle aus einem Ort und das war ein Jahr Landesliga, und dann war es vorbei. Aber sie haben immer gezehrt von diesem Erfolg, der einmalig ist mit eigenen Spielern und diese Spieler kamen insgesamt aus fünf Häusern."
Damals war die Landesliga die fünfthöchste Spielklasse. Und mittendrin der SV Deifeld als Familienbetrieb im sauerländischen Amateurfußball: Das ist Fußballgeschichte. Nicht im Großen, sondern im Kleinen.
Fußballhistoriker abseits der Universitäten und Medien
Aber es muss Menschen geben, die diese Geschichte festhalten. Und davon gibt es mittlerweile einige. In gar nicht so kleiner Anzahl widmen sich Hobbyhistoriker dieser Leidenschaft. Inzwischen haben sich einige von ihnen sogar in einem Verband zusammengeschlossen. Keine Zeithistoriker im wissenschaftlichen Sinne, die es an eine Universität ziehen würde, ernst genommen werden wollen sie trotzdem:
"Der Fußball und seine Geschichte sind viel größer, als manch einer denkt. Daran zu erinnern, haben wir uns vorgenommen. Wir, das sind die Fußballhistoriker: Durchaus einige Menschen und nicht nur wenige Exoten mit einem schrägen Hobby."
So stellen sich die Fußballhistoriker auf ihrer Homepage vor. Und sie haben recht: Auch Günter Guntermann zeigt in seinem Buch, dass das, was hinter den Ereignissen steht, größer ist, als es den Anschein hat: Dass es um Alltagskultur geht. Dass es ein Verlust ist, wenn eben nicht mehr jedes Dorf seinen eigenen Fußballverein hat, weil zwei Fußballkreise fusionieren. Theoretisch wäre Günter Guntermann ein Kandidat für den Verband der Fußballhistoriker. Aber seine Arbeit im Kreis sieht er als beendet an.
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Erinnerungen an legendäre Fußballmomente: Sie sind ganz individuell, denn jeder verbindet mit diesen etwas anderes: Etwa das spektakuläre Spiel des FC Liverpool gegen Mailand, als die Engländer in sechs Minuten ein 0:3 ausglichen, besagter Treckersturz von Düdinghauen oder der Aufstieg von Spal Ferrara in die italienische Serie A im vergangenen Jahr.
Ferrara in der Emilia-Romagna: eine Universitätsstadt mit großen historischen Stadtkern, mit wundervollen Renaissance-Bauten. Ein Paradies für Fahrradfahrer obendrein, denn die Innenstadt ist eine autofreie Zone. Ein wenig stand Ferrara immer im Schatten von Bologna, das gerade 60 Kilometer entfernt liegt - wirtschaftlich und kulturell, denn Bologna hat die älteste Universität der Welt, aber auch fußballerisch: 49 Jahre lang war Spal Ferrara nicht erstklassig. Und doch ist Spal ein ganz besonderer Verein in Italien. Mit einem Ruf, der weit über die Region hinausgeht. Es ist ein Traditionsklub ersten Ranges. Società Polisportiva Ars et Labor, dafür stehen die Initiale Spal: Sportverein für Geschicklichkeit und Arbeit.
Mit ebenso klangvoller Hymne, die man nach langen Suchen auf Youtube findet.
Als der Aufstieg in die 1. Liga perfekt war, gratulierte sogar Torhüterlegende Gigi Buffon aufs Herzlichste. Der Marktplatz, halb so groß wie der Münchner Marienplatz, hätte nicht voller sein können an jenem Abend, an dem der Aufstieg gefeiert wurde. Achterbahn, das ist das Bild, das einem bei der Geschichte Spals in den letzten Jahrzehnten in den Sinn kommt.
Höhen und Abstürze reihen sich aneinander. Da kann man schnell mal den Überblick verlieren. Aber es gibt einen Mann, von dem man sagt, er wisse alles über diesen Klub. Dieser Mann ist Giorgio Caleffi, Herrenschneider mit Atelier im ehemaligen Getto von Ferrara, dem alten jüdischen Viertel. Ein Dorf innerhalb der Stadt. Verwinkelt, ein wenig verwunschen wirkt es. Links eine Osteria, rechts das Atelier eines Künstlers. Und dazwischen die Schneiderei, die Sartoria, die wie aus der Zeit gefallen wirkt. Wer sich hier umschaut, der sieht Anzüge in verschiedenen Fertigungsstufen, ein holzvertäfeltes Anprobezimmer. Und in beiden Räumen allerlei Fotos, Portraits von Spielern, Wimpel von Klubs. Seit 50 Jahren sehe hier alles gleich aus, heißt es. Nur das Mannschaftsfoto von Spal, das wechselt von Jahr zu Jahr.
Schneider Giorgio Caleffis hört allen zu
"Wenn ich mal einen harten Tag hatte, wenn ich ein bisschen traurig bin oder ein paar Probleme im Job hatte, dann komme ich hierher. Dann weiß ich, ich muss nur rausgehen und in Giorgios Laden gehen, ein wenig mit ihm plaudern oder mit seinen Freunden. Über Fußball, über das nächste Spiel von Spal, oder das Derby in Mailand. Danach fühle ich mich meist besser. In diesem Laden schreitet die Zeit nicht voran, sie steht still. Du findest genau das, was du suchst und du weißt, dass du es hier findest. Du bist in Giorgios Laden, du bist bei ihm, du redest über Fußball. Der Rest der Welt bleibt draußen vor der Tür."
Pietro Zanni ist ein Nachbar Giorgios, eine gute Generation jünger als dieser. Natürlich, könnte man auch über den Herrenschneider Giorgio Caleffi reden, der einen ganz hervorragenden Ruf genießt, sagt Pietro. Als Handwerker ist er der letzte seiner Art in Ferrara, doch das ist es nicht, was ihn einzigartig macht: Es ist sein Wissen über Fußball, speziell über Spal. Und wer genau hinschaut, der erkennt, dass Caleffis Laden eigentlich ein kleines Museum ist.
Gleich neben der Tür, hinter der Schneiderpuppe, auf der ein neues Jackett auf die Anprobe wartet, hängt ein Bild des Teams von 1951. Damals spielte Spal in der zweiten Liga, der Serie B. Die Klasse, die keine Rolle spiele, sagt Giorgio Caleffi: "Mir gefällt einfach der Fußball, ob das Serie A, Serie B oder Serie C ist. Wenn ich ein begeisterndes, ein schönes Spiel sehe, dann fühle ich mich wieder jung."
Sechs Jahrzehnte Fußball in Ferrara
Hinter seinem Arbeitsplatz hängt die Kopie eines Interviews aus der Ferrareser Lokalzeitung: ein Interview mit Giorgio Caleffi über den Fußball, über Spal, seinen Klub. Schnell wird klar: Dieser Mann ist nicht nur ein Schneider, der gern über Fußball redet. Er ist eine Institution. Davon macht er aber kein Aufhebens. Er führe ein bescheidenes Leben, betont Giorgio Caleffi:
"Ich bin immer hier im Laden, meine Freunde schauen vorbei, da fühle ich mich wohl. Aber ich glaube, dass ich ein nicht so schlechter Kerl war, wenn schon seit 60 Jahren die gleichen Leute hierher zu mir kommen."
Einer, der ihn seit sechs Jahrzehnten kennt, ist Angelo. Er war auch einmal Schneider wie Giorgio und ist im selben Alter. Ein stilbewusster Herr Ende 70. Er trägt eine braune Lederjacke und eine rotgetönte Sonnenbrille, die auch Clint Eastwood zur Ehre gereichen würde:
"Giorgio ist ein großartiger Arbeiter. Er arbeitet viel, er arbeitet wohl auch zu viel, er ist ständig in seinem Laden. Er hat nur eine Charakterschwäche: Er verlangt zu wenig für seine Arbeit. Für so einen Anzug, 58 Stunden braucht man dafür."
Die Arbeit sei das eine. Aber die Schneiderei, die habe den Vorteil, dass man auf einem Hocker sitzen und dabei plaudern könne. Genau das tun die Freunde in der Sartoria von Giorgio Caleffi. Worüber, das ist ja klar:
"Natürlich ist Fußball das Thema hier, vor allem am Montag. Wir sind eine Gruppe von Freunden unterschiedlich alt, Milanista, Interista, Juventini. Sicher, viel, es macht Spaß, mit ihm über Fußball zu reden. Er ist Milan-Fan, ich auch, Du bist für Inter, es macht Spaß."
Präzise notiert wie der Schnitt eines Anzugs
Caleffif ist, wie er selbst sagt, ein bescheidener Mann. Nie würde er damit hausieren gehen, dass er auch einmal für den Schriftsteller Giorgio Bassani geschneidert hat. Dessen berühmter Roman "Die Gärten der Finzi Contini" handelt vom Schicksal der Ferrareser Juden während der Mussolini-Diktatur. Mit prominenten Fußballern verhält es sich ähnlich. Man muss nachfragen, um von all seinen Bekanntschaften zu erfahren. Aber wenn er einmal dabei ist, dann erzählt Giorgio Caleffi gern, denn Fußball und die Schneiderei, das geht hier im ehemaligen Getto von Ferrara einfach gut zusammen:
"Schon als kleiner Junge habe ich mir alle Spiele angeschaut, bin ins Stadion gegangen, schon damals hat es mir Spaß gemacht, alles aufzuschreiben alle Tore, alle Spieler von Spal. Als Kind habe ich gespielt, ja, aber ich war eher mittelmäßig."
Notiert hat er alles so präzise, wie er den Schnitt bei seinen Anzügen führt. Dabei hat er aber auch eine Marotte: Nach einer Saison wirft er seine Notizen weg. Was ihm wichtig ist, das behalte er sowieso, sagt Giorgio Caleffi, anderes eben nicht:
"Ja, da würde ich zustimmen. Früher, da konnte ich mich an jedes Datum erinnern als leidenschaftlicher Fußballhistoriker. Aber jetzt, mit dem Alter, wenn jemand kommt und mich fragt, wo war diese oder jene WM, dann kann ich mich nicht immer genau erinnern. Da muss ich dem Alter Tribut zollen. Aber nicht über Spal. Über Spal weiß ich immer noch alles. Ich kann mich an jeden Spieler erinnern, der mal in Ferrara gespielt hat: Capello, Delneri. Da waren sie noch in der Serie C. Ich erinnere mich an alle, auch, wenn sie älter geworden sind und sie niemand mehr erkennt. Ich erkenne sie. Zuletzt habe ich Pagliuca mal wieder gesehen. Viele Leute erkennen die nicht, ich habe ein fotografisches Gedächtnis."
Aber was macht diesen alten Herren so außergewöhnlich, dass über ihn, den Schneider von Ferrara, nicht als Couturier, sondern als Fußballkenner in der Zeitung berichtet wird, dass immer wieder bekannte Fußballer in seinem Atelier gesichtet werden. Pagliuca, zum Beispiel, immerhin ein ehemaliger Nationaltorhüter:
"Meiner Meinung nach ist er weit mehr als nur so eine Art Lexikon. Er weiß zwar alles, aber er hat ein Gespür für den Fußball. Ich kann das gar nicht anders ausdrücken. Am Tag vor großen Spielen gehe ich gern mal vorbei. Jedes Mal, wenn er sich Gedanken darüber macht, dann kommt es auch so. Er liegt immer richtig."
Die Substanz hinter den Zahlen
Fußball erspüren, ihn intuitiv zu begreifen: Das ist etwas anderes, als sich ihm mit Hilfe von Statistiken zu nähern. Es geht gewissermaßen um die Substanz hinter den Zahlen. Giorgio Caleffi hat es, dieses tiefe Verständnis für den Fußball.
Und vielleicht ist es genau das, was die Herren aus der weiten Welt des Fußballs immer wieder zurückkehren lässt in die Sartoria im ehemaligen Getto von Ferrara. Nicht nur, um sich von Giorgio Caleffi einen Anzug schneidern zu lassen, sondern auch, um sich mit ihm über Fußball auszutauschen. Ein Trainer wie Luigi Delneri zum Beispiel. Er gilt durchaus als schwieriger Kandidat, als großer Kenner und vor allem als begnadeter Taktiker, der nicht viele Positionen neben seinen eigenen gelten lässt. Und dann zeigt uns Giorgio Caleffi einen handgeschriebenen Bogen. Darauf hat er Namen aufgelistet wie bei einer Mannschaftsaufstellung nach Positionen: Torhüter, Abwehrspieler, Mittelfeldspieler, Stürmer:
"Das hier, das waren meine Kunden: Torhüter, Abwehrspieler, Mittelfeldspieler, Stürmer. Alle kamen vorbei von Spal, vor allem die jungen Spieler. 52 Spieler kamen zu mir hierher als Kunden in die Schneiderei. Nachdem der erste kam, hat sich das herumgesprochen, und über die Jahre waren es 52."
Heute nehmen die Spieler von Spal seine Dienste nicht mehr in Anspruch. Man präsentiert sich in einheitlicher Garderobe. Ihn stört das nicht. Denn Giorgio Caleffis Liebe zum Fußball ist an keine Zeit und an keine Spielklasse gebunden. Das verbindet ihn, den Schneider aus Ferrara, mit Günter Guntermann, den Kriminalkommissar aus dem Sauerland: Fußball eben. Und die Erinnerung daran.