"London war in einem Paralympic-Fieber"
Die Leistungssteigerungen bei den Paralympics in London könnten die Situation von behinderten Menschen insgesamt verbessern, so Friedhelm Julius Beucher. Der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes hofft auf eine allmähliche Angleichung der Lebensbedingungen.
Katrin Heise: Gestern gingen sie mit einer tollen Party zu Ende, die Paralympics. Mal abgesehen von den ausverkauften Sportstätten, an diesen Wettkämpfen ist man in London wahrscheinlich nicht vorbeigekommen, Plakate, ein riesiges, gigantisches Medieninteresse. Und wie der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung hier im Deutschlandradio Kultur sagte, wir Deutschen könnten die Engländer bei einem entspannten Umgang mit behinderten Menschen zuschauen. Was bleibt von dieser Euphorie? Was kann daraus gemacht werden? Fragen an Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes. Schönen guten Tag, Herr Beucher!
Friedhelm Julius Beucher: Guten Tag, Frau Heise!
Heise: Sie sind ja noch in London und packen quasi die Koffer. Kurze Rückschau: Was waren Ihre persönlichen Highlights? Waren das eher Leistungen oder die Stimmung insgesamt?
Beucher: Das kann man nicht voneinander trennen. Also das gesamte London war in einem Paralympic-Fieber, so abgedroschen das auch klingen mag. Die Offenheit der Menschen, die Warmherzigkeit in der Begegnung mit den vielen Nationen und den Menschen mit ihren unterschiedlichen Behinderungen, und dann diese unwahrscheinliche Stimmung in den ausverkauften Stadien. Das hat manchem, der seit Jahrzehnten dabei ist, förmlich das Wasser in die Augen getrieben.
Heise: "Ich bin stolzer Paralympier. Das war das beste Rennen, an dem ich je teilgenommen habe." Das sagte der Südafrikaner Oscar Pistorius nach dem 100m-Sprint, bei dem er nur Vierter wurde. "Das Niveau war so hoch, das macht mich so glücklich", so wird er zitiert. Würden Sie ihm da recht geben, war das insgesamt ein unglaublich hohes Niveau des Behindertensports?
Beucher: Ja, die Summe der gelaufenen und errollten und erschwommenen Weltrekorde ist geradezu beängstigend, weil sie einen Quantensprung in der Leistungssportentwicklung der Menschen mit Behinderung darstellt. Aber das zeigt, dass – und gestatten Sie mir diesen militärischen Ausdruck – viele Länder in den letzten Jahren förmlich aufgerüstet haben. Den Menschen mit Behinderung in ihrer Gesellschaft entdeckt haben und ihm auch die Gelegenheit geben, zu zeigen, was er kann. Dass nicht mehr die Behinderung im Mittelpunkt steht, sondern seine sportliche Höchstleistung. Und so treten hier Nationen an mit Menschen, die man vorher gar nicht gesehen hat und gar nicht sehen konnte. Und das ist vielleicht auch ein positiver Teil dieser Entwicklung, dieses weltweite Umgreifen im paralympischen Sport.
Heise: Und wenn jetzt aber doch einen kritischen Ton anbringe: Bei den Olympischen Spielen haben wir die Diskussion um Doping, bei den Paralympics ging es jetzt immer um technisches Doping, je nachdem, wie lang die Unterschenkelprothese sein darf oder wie das Kniegelenk aussieht. Geht der paralympische Sport da den gleichen Weg?
Beucher: Nein. Doping, zunächst, ist ja ein hässliches Wort. Es setzt Betrug voraus und Unfairness. Die Tatsache, ob jetzt eine Prothese länger oder kürzer ist, muss im Regelwerk geregelt werden. Wenn Prothesen ohne Längenmaß zugelassen sind, dann ist da, wo schnellstens das IPC, das Internationale Paralympische Komitee, nachbessern muss. Und die Veränderungen an Kniegelenken oder an Prothesen, was den Abdruck und den Ablauf angeht, das sind einfach technologische Entwicklungen, die haben nichts mit Betrug und Unfairness zu tun. Das ist eine Weiterentwicklung der Prothetik und schafft keinen Vorteil, sondern ersetzt ein fehlendes Bein.
Heise: Und Doping-Kontrollen gibt es ja genauso im Behindertensport, also bei den Paralympischen Spielen wie bei den Olympischen Spielen, nicht wahr?
Beucher: Genau.
Heise: Fühlen Sie sich jetzt mit den Paralympics quasi wirklich auf Augenhöhe ernst genommen?
Beucher: Nein. Das einmalige Ereignis und die Erlebnisse in London können nur der Startschuss sein auf dem weiteren Weg in die Mitte der Gesellschaft im Blick auf die Angleichung von Lebens- und Sportbedingungen von Menschen mit Behinderung. Das ist hier ein gewaltiger und wichtiger Schritt gewesen, und um mit dem französischen Philosophen Georges Aures zu sprechen: Wir müssen jetzt die Flamme am Lodern halten.
Heise: Wenn wir noch mal auf dieses Verhältnis Behinderte/Nichtbehinderte zu sprechen kommen – und Sie haben auch gesagt, dass also dieses Mal einfach die Leistungen so sehr im Vordergrund standen –, also man muss dann schon aber auch zugeben, dass man, wenn man das geguckt hat als nichtbehinderter Mensch, man schon auch sehr ins Staunen geraten ist und immer wieder zum Teil auch geschaut hat, wo liegt denn da die Behinderung bei dem und dem Sportler, oder eben, wie kann man tatsächlich mit solchen Prothesen so schnell laufen? Also die Behinderung ist natürlich trotzdem immer im Mittelpunkt. Ist das zu akzeptieren oder wird das so über die Jahre Ihrer Meinung nach hoffentlich dann auch in den Hintergrund rücken?
Beucher: Nein, bei der Vielfalt der Behinderungen, zerebrale Behinderungen, Sehbehinderungen, erkennen Sie von außen ja zunächst gar nicht auf den ersten Blick, das ist nur sichtbar bei Rollstuhlfahrern und bei Amputierten, die mit Prothesen laufen. Hier sorgt ein ziemlich enges Regelwerk für das Höchstmaß an Gleichbehandlung und auch an Fairness. Denn wenn jemand ohne Arme schwimmt und der andere schwimmt mit einem Arm, erkennt man auf den ersten Blick ja gar nicht den Unterschied oder sagt, das ist doch nicht gerecht.
Das ist ein Riesenproblem, diese Gerechtigkeit und diese Gleichheit nach außen sichtbar zu vermitteln, da kommen aber überwiegend ärztliche und biomechanische Erkenntnisse hinzu, um genau zu beurteilen, ist der fehlende Arm oder das fehlende Bein in der Wirkung, in der Sportausübung gleichzubehandeln? Ein Thema, was praktisch jede Sendung sprengen würde, weil es so kompliziert ist.
Nur, was die Gesamtaußenwahrnehmung angeht, das ist natürlich für jemand, der bisher kaum Umgang mit Behinderten hatte oder nicht in unmittelbarer Nähe das erfahren hat, noch ein weiterer Schritt. Dazu gehört es eben auch, Barrieren, die ganz natürlich im gehemmten Umgang mit behinderten Menschen vorhanden sind, auch diese Barrieren in den Köpfen zunächst einzureißen.
Heise: Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbands im Deutschlandradio Kultur. Herr Beucher, Sie haben auch eben gesagt, die Flamme muss jetzt am Lodern gehalten werden. Wie lange, denken Sie, wird die Euphorie anhalten? Oder anders: Wie nachhaltig, vermuten Sie, wird das Interesse bleiben?
Beucher: Ja, das liegt auch an uns, das liegt am Verband, das liegt an unseren Athleten. Nicht nach Hause kommen, Koffer auspacken und aufs Sofa legen – wir müssen jetzt diesen Schub mitnehmen. Das kann man jetzt schon bei den vielen Empfängen, was es früher gar nicht gab, die jetzt überall in den Städten und Heimatorten der Sportlerinnen und Sportler vorkommen. Das geht aber auch in die Politik, in die Diskussion der Parlamente.
Ich freue mich, dass ich bereits im November auf der Sportministerkonferenz der Länder in Eisenach berichten kann über diese Paralympics und über das, was das an Konsequenzen für uns in der öffentlichen Sportförderung heißt. Ich freue mich jetzt schon auf den Kontakt mit Sponsoren und bei der Neugewinnung von Sponsoren, um deutlich zu machen: Viele Entwicklungen und insbesondere zur Leistungsspitze und das Beibehalten - was wir hier erreicht haben - dieser Leistungsspitze ist nicht nur mit gutem Willen, sondern vor allem mit viel Geld notwendig.
Heise: Haben Sie da schon Zeichen bekommen? Also, wie sieht es aus mit der Nachwuchsarbeit?
Beucher: Die Nachwuchsarbeit wird beeinträchtigt dadurch, dass es Gott sei Dank immer weniger Menschen mit Behinderung gibt, sofern sie von Geburt an behindert sind. Das setzt ein umfassendes Scout-System, sprich ein Sichtungssystem voraus. Da sind wir auch noch auf Neuland. Früher war es normal, dass eine Sonderschule, heute Förderschule geheißen, den talentierten behinderten Sportler, dem nächsten Behindertensportverband meldete. So einfach geht das heute nicht mehr. Wir müssen bundesweite Vergleichskämpfe anbieten. Wir haben jetzt erst im dritten Jahr "Jugend trainiert für Paralympics". Da sieht man, dass noch viel aufzuholen ist, und die Nachwuchsarbeit ist ein ganz zentrales Thema unseres Verbandes.
Heise: Wie sehen Sie das eigentlich, die Entscheidung, dass zum Beispiel ein Sportler wie Oscar Pistorius in diesem Jahr, und ich glaube, das hat er gar nicht zum ersten Mal gemacht, bei beiden Wettkämpfen gestartet ist, bei den Olympischen Spielen und bei den Paralympics?
Beucher: Wenn das Regelwerk des Sports das zulässt. Er musste eine bestimmte Zeit erlaufen. Er hat das nicht mit einem Düsenantrieb gemacht oder mit einer Sprungfeder, sondern lediglich mit Prothesen, die die fehlenden Beine ersetzt haben. Und solange dieses Regelwerk besteht, hat man diese Möglichkeit. Er gilt als Mensch mit Behinderung, konnte also selbstverständlich bei den Paralympics starten. Wenn die großen Verbände, sprich IOC und IPC dort keine Änderung herbeiführen, wird das auch weiterhin so sein. Und da wird noch der eine oder andere hinzukommen.
Heise: Wir haben ja über die technischen Neuerungen gesprochen, und Sie haben gesagt, das bringt den Behindertensport so viel weiter. Aber ist da nicht auch tatsächlich eine Zweiklassengesellschaft quasi zu sehen? Denn in Entwicklungsländern beispielsweise kann man diese Gerätschaften so gar nicht anwenden.
Beucher: Das ist richtig. Das gilt aber, wie gesagt, ausschließlich für die technischen Wettbewerbe. Das heißt, in denen, wo Rollstühle, Sportgeräte und wo Prothetik eingesetzt wird. Das ist ein Riesenschritt. Das ist aber wie überall auf der Welt, dass die Angleichung der Lebensbedingungen von Menschen in anderen Ländern, in Entwicklungsländern zu unserer europäischen Gesellschaft noch eine riesenweite gesellschaftliche Herausforderung und, menschlich gesehen, auch Aufgabe ist. Da unterscheidet sich der Sport nicht von der Gesellschaft.
Heise: Würden Sie sagen, dass da die paralympischen Spiele, ohne dass man jetzt die Paralympics überfrachten will, da auch einen Schub vielleicht gegeben hat?
Beucher: Das findet schon statt. Wenn Sie sehen, dass ein großes deutsches Prothetikunternehmen hier seit Jahren in den paralympischen Dörfern eine Werkstatt unterhält, die aber faktisch eine Prothesenaustauschstelle ist, und das pro bonum macht, also kein Geld dafür nimmt, ist das schon praktizierte Entwicklungshilfe. Ich habe immer gesagt, da kommt der Süd- – nicht der Südafrikaner – da kommt ein Mensch aus Afrika mit einem Holzbein herein und geht mit einer Carbonprothese hinaus. Das ist sehr oft der Fall. Denn die kommen mit Prothesen, die einfach nicht reparierbar sind und müssen dafür dann entsprechende Neuteile bekommen, wobei das natürlich nicht der Weg ist, durch Geschenke und Unterstützung, sondern das ist eben eine Frage, die sich nicht nur auf den Sport, sondern auch auf die gesamte gesellschaftliche Entwicklung bezieht.
Heise: Sagt Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes. Herr Beucher, ich wünsche Ihnen jetzt erst mal eine gute Heimreise aus London.
Beucher: Ich muss hier noch packen.
Heise: Aber dann haben Sie schöne Empfänge vor sich. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch, vielen Dank!
Beucher: In diesem Sinne, ja. Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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"Wir wollen die Unterschiede groß machen" - Behinderte und nicht-behinderte Schüler lernen erfolgreich an einer Grundschule in Münster, (DKultur, Thema)
Friedhelm Julius Beucher: Guten Tag, Frau Heise!
Heise: Sie sind ja noch in London und packen quasi die Koffer. Kurze Rückschau: Was waren Ihre persönlichen Highlights? Waren das eher Leistungen oder die Stimmung insgesamt?
Beucher: Das kann man nicht voneinander trennen. Also das gesamte London war in einem Paralympic-Fieber, so abgedroschen das auch klingen mag. Die Offenheit der Menschen, die Warmherzigkeit in der Begegnung mit den vielen Nationen und den Menschen mit ihren unterschiedlichen Behinderungen, und dann diese unwahrscheinliche Stimmung in den ausverkauften Stadien. Das hat manchem, der seit Jahrzehnten dabei ist, förmlich das Wasser in die Augen getrieben.
Heise: "Ich bin stolzer Paralympier. Das war das beste Rennen, an dem ich je teilgenommen habe." Das sagte der Südafrikaner Oscar Pistorius nach dem 100m-Sprint, bei dem er nur Vierter wurde. "Das Niveau war so hoch, das macht mich so glücklich", so wird er zitiert. Würden Sie ihm da recht geben, war das insgesamt ein unglaublich hohes Niveau des Behindertensports?
Beucher: Ja, die Summe der gelaufenen und errollten und erschwommenen Weltrekorde ist geradezu beängstigend, weil sie einen Quantensprung in der Leistungssportentwicklung der Menschen mit Behinderung darstellt. Aber das zeigt, dass – und gestatten Sie mir diesen militärischen Ausdruck – viele Länder in den letzten Jahren förmlich aufgerüstet haben. Den Menschen mit Behinderung in ihrer Gesellschaft entdeckt haben und ihm auch die Gelegenheit geben, zu zeigen, was er kann. Dass nicht mehr die Behinderung im Mittelpunkt steht, sondern seine sportliche Höchstleistung. Und so treten hier Nationen an mit Menschen, die man vorher gar nicht gesehen hat und gar nicht sehen konnte. Und das ist vielleicht auch ein positiver Teil dieser Entwicklung, dieses weltweite Umgreifen im paralympischen Sport.
Heise: Und wenn jetzt aber doch einen kritischen Ton anbringe: Bei den Olympischen Spielen haben wir die Diskussion um Doping, bei den Paralympics ging es jetzt immer um technisches Doping, je nachdem, wie lang die Unterschenkelprothese sein darf oder wie das Kniegelenk aussieht. Geht der paralympische Sport da den gleichen Weg?
Beucher: Nein. Doping, zunächst, ist ja ein hässliches Wort. Es setzt Betrug voraus und Unfairness. Die Tatsache, ob jetzt eine Prothese länger oder kürzer ist, muss im Regelwerk geregelt werden. Wenn Prothesen ohne Längenmaß zugelassen sind, dann ist da, wo schnellstens das IPC, das Internationale Paralympische Komitee, nachbessern muss. Und die Veränderungen an Kniegelenken oder an Prothesen, was den Abdruck und den Ablauf angeht, das sind einfach technologische Entwicklungen, die haben nichts mit Betrug und Unfairness zu tun. Das ist eine Weiterentwicklung der Prothetik und schafft keinen Vorteil, sondern ersetzt ein fehlendes Bein.
Heise: Und Doping-Kontrollen gibt es ja genauso im Behindertensport, also bei den Paralympischen Spielen wie bei den Olympischen Spielen, nicht wahr?
Beucher: Genau.
Heise: Fühlen Sie sich jetzt mit den Paralympics quasi wirklich auf Augenhöhe ernst genommen?
Beucher: Nein. Das einmalige Ereignis und die Erlebnisse in London können nur der Startschuss sein auf dem weiteren Weg in die Mitte der Gesellschaft im Blick auf die Angleichung von Lebens- und Sportbedingungen von Menschen mit Behinderung. Das ist hier ein gewaltiger und wichtiger Schritt gewesen, und um mit dem französischen Philosophen Georges Aures zu sprechen: Wir müssen jetzt die Flamme am Lodern halten.
Heise: Wenn wir noch mal auf dieses Verhältnis Behinderte/Nichtbehinderte zu sprechen kommen – und Sie haben auch gesagt, dass also dieses Mal einfach die Leistungen so sehr im Vordergrund standen –, also man muss dann schon aber auch zugeben, dass man, wenn man das geguckt hat als nichtbehinderter Mensch, man schon auch sehr ins Staunen geraten ist und immer wieder zum Teil auch geschaut hat, wo liegt denn da die Behinderung bei dem und dem Sportler, oder eben, wie kann man tatsächlich mit solchen Prothesen so schnell laufen? Also die Behinderung ist natürlich trotzdem immer im Mittelpunkt. Ist das zu akzeptieren oder wird das so über die Jahre Ihrer Meinung nach hoffentlich dann auch in den Hintergrund rücken?
Beucher: Nein, bei der Vielfalt der Behinderungen, zerebrale Behinderungen, Sehbehinderungen, erkennen Sie von außen ja zunächst gar nicht auf den ersten Blick, das ist nur sichtbar bei Rollstuhlfahrern und bei Amputierten, die mit Prothesen laufen. Hier sorgt ein ziemlich enges Regelwerk für das Höchstmaß an Gleichbehandlung und auch an Fairness. Denn wenn jemand ohne Arme schwimmt und der andere schwimmt mit einem Arm, erkennt man auf den ersten Blick ja gar nicht den Unterschied oder sagt, das ist doch nicht gerecht.
Das ist ein Riesenproblem, diese Gerechtigkeit und diese Gleichheit nach außen sichtbar zu vermitteln, da kommen aber überwiegend ärztliche und biomechanische Erkenntnisse hinzu, um genau zu beurteilen, ist der fehlende Arm oder das fehlende Bein in der Wirkung, in der Sportausübung gleichzubehandeln? Ein Thema, was praktisch jede Sendung sprengen würde, weil es so kompliziert ist.
Nur, was die Gesamtaußenwahrnehmung angeht, das ist natürlich für jemand, der bisher kaum Umgang mit Behinderten hatte oder nicht in unmittelbarer Nähe das erfahren hat, noch ein weiterer Schritt. Dazu gehört es eben auch, Barrieren, die ganz natürlich im gehemmten Umgang mit behinderten Menschen vorhanden sind, auch diese Barrieren in den Köpfen zunächst einzureißen.
Heise: Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbands im Deutschlandradio Kultur. Herr Beucher, Sie haben auch eben gesagt, die Flamme muss jetzt am Lodern gehalten werden. Wie lange, denken Sie, wird die Euphorie anhalten? Oder anders: Wie nachhaltig, vermuten Sie, wird das Interesse bleiben?
Beucher: Ja, das liegt auch an uns, das liegt am Verband, das liegt an unseren Athleten. Nicht nach Hause kommen, Koffer auspacken und aufs Sofa legen – wir müssen jetzt diesen Schub mitnehmen. Das kann man jetzt schon bei den vielen Empfängen, was es früher gar nicht gab, die jetzt überall in den Städten und Heimatorten der Sportlerinnen und Sportler vorkommen. Das geht aber auch in die Politik, in die Diskussion der Parlamente.
Ich freue mich, dass ich bereits im November auf der Sportministerkonferenz der Länder in Eisenach berichten kann über diese Paralympics und über das, was das an Konsequenzen für uns in der öffentlichen Sportförderung heißt. Ich freue mich jetzt schon auf den Kontakt mit Sponsoren und bei der Neugewinnung von Sponsoren, um deutlich zu machen: Viele Entwicklungen und insbesondere zur Leistungsspitze und das Beibehalten - was wir hier erreicht haben - dieser Leistungsspitze ist nicht nur mit gutem Willen, sondern vor allem mit viel Geld notwendig.
Heise: Haben Sie da schon Zeichen bekommen? Also, wie sieht es aus mit der Nachwuchsarbeit?
Beucher: Die Nachwuchsarbeit wird beeinträchtigt dadurch, dass es Gott sei Dank immer weniger Menschen mit Behinderung gibt, sofern sie von Geburt an behindert sind. Das setzt ein umfassendes Scout-System, sprich ein Sichtungssystem voraus. Da sind wir auch noch auf Neuland. Früher war es normal, dass eine Sonderschule, heute Förderschule geheißen, den talentierten behinderten Sportler, dem nächsten Behindertensportverband meldete. So einfach geht das heute nicht mehr. Wir müssen bundesweite Vergleichskämpfe anbieten. Wir haben jetzt erst im dritten Jahr "Jugend trainiert für Paralympics". Da sieht man, dass noch viel aufzuholen ist, und die Nachwuchsarbeit ist ein ganz zentrales Thema unseres Verbandes.
Heise: Wie sehen Sie das eigentlich, die Entscheidung, dass zum Beispiel ein Sportler wie Oscar Pistorius in diesem Jahr, und ich glaube, das hat er gar nicht zum ersten Mal gemacht, bei beiden Wettkämpfen gestartet ist, bei den Olympischen Spielen und bei den Paralympics?
Beucher: Wenn das Regelwerk des Sports das zulässt. Er musste eine bestimmte Zeit erlaufen. Er hat das nicht mit einem Düsenantrieb gemacht oder mit einer Sprungfeder, sondern lediglich mit Prothesen, die die fehlenden Beine ersetzt haben. Und solange dieses Regelwerk besteht, hat man diese Möglichkeit. Er gilt als Mensch mit Behinderung, konnte also selbstverständlich bei den Paralympics starten. Wenn die großen Verbände, sprich IOC und IPC dort keine Änderung herbeiführen, wird das auch weiterhin so sein. Und da wird noch der eine oder andere hinzukommen.
Heise: Wir haben ja über die technischen Neuerungen gesprochen, und Sie haben gesagt, das bringt den Behindertensport so viel weiter. Aber ist da nicht auch tatsächlich eine Zweiklassengesellschaft quasi zu sehen? Denn in Entwicklungsländern beispielsweise kann man diese Gerätschaften so gar nicht anwenden.
Beucher: Das ist richtig. Das gilt aber, wie gesagt, ausschließlich für die technischen Wettbewerbe. Das heißt, in denen, wo Rollstühle, Sportgeräte und wo Prothetik eingesetzt wird. Das ist ein Riesenschritt. Das ist aber wie überall auf der Welt, dass die Angleichung der Lebensbedingungen von Menschen in anderen Ländern, in Entwicklungsländern zu unserer europäischen Gesellschaft noch eine riesenweite gesellschaftliche Herausforderung und, menschlich gesehen, auch Aufgabe ist. Da unterscheidet sich der Sport nicht von der Gesellschaft.
Heise: Würden Sie sagen, dass da die paralympischen Spiele, ohne dass man jetzt die Paralympics überfrachten will, da auch einen Schub vielleicht gegeben hat?
Beucher: Das findet schon statt. Wenn Sie sehen, dass ein großes deutsches Prothetikunternehmen hier seit Jahren in den paralympischen Dörfern eine Werkstatt unterhält, die aber faktisch eine Prothesenaustauschstelle ist, und das pro bonum macht, also kein Geld dafür nimmt, ist das schon praktizierte Entwicklungshilfe. Ich habe immer gesagt, da kommt der Süd- – nicht der Südafrikaner – da kommt ein Mensch aus Afrika mit einem Holzbein herein und geht mit einer Carbonprothese hinaus. Das ist sehr oft der Fall. Denn die kommen mit Prothesen, die einfach nicht reparierbar sind und müssen dafür dann entsprechende Neuteile bekommen, wobei das natürlich nicht der Weg ist, durch Geschenke und Unterstützung, sondern das ist eben eine Frage, die sich nicht nur auf den Sport, sondern auch auf die gesamte gesellschaftliche Entwicklung bezieht.
Heise: Sagt Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes. Herr Beucher, ich wünsche Ihnen jetzt erst mal eine gute Heimreise aus London.
Beucher: Ich muss hier noch packen.
Heise: Aber dann haben Sie schöne Empfänge vor sich. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch, vielen Dank!
Beucher: In diesem Sinne, ja. Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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