Als psychisches Problem verharmlost
24:25 Minuten
Fast sieben Millionen Menschen haben sich im Vereinigten Königreich nachweislich mit Corona infiziert. Hunderttausende haben Long-Covid-Symptome, aber bekommen keine Behandlung. Auch unsere Autorin. Langsam reagiert das Gesundheitssystem.
Helen, Nikki und ich treffen uns online, um uns über unsere Erfahrungen mit Long Covid auszutauschen.
"Long-Haulers" nennen wir uns: Langzeit-Patienten, die sich nie von ihrer akuten Covid-Infektion erholt haben. Wir kennen uns aus der Selbsthilfegruppe "Long Covid Support Group" auf Facebook.
Helen aus der Mitte Englands ist seit Oktober 2020 krank. Nikki aus der südwestlichen Grafschaft Devon plagen seit 18 Monaten immer wechselnde Symptome. Sie ist so müde, dass sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen kann. Sie ist kurzatmig, kann sich nicht konzentrieren, und auch ihr Gedächtnis funktioniert nicht mehr wie früher.
Als Nikki krank wurde, gab es noch keine Corona-Tests, geschweige denn Informationen über Long Covid. Monatelang dachte sie, sie wäre mit ihren Symptomen allein:
"Das ist das erste Mal, dass ich mit jemandem rede, der etwas Ähnliches durchmacht wie ich. Ich fühle mich so allein. Ich lebe in einer sehr kleinen Stadt. Es bricht mir das Herz, eure Geschichten zu hören, aber irgendwie erleichtert es mich auch zu wissen, dass ich nicht allein bin."
Facebook-Gruppe mit 43.000 Betroffenen
Die Selbsthilfegruppe ist für viele von uns ein Anlaufpunkt – in einer Zeit, in der uns niemand erklären kann, was mit unseren Körpern los ist. Als in den Anfangsmonaten etwa die Hälfte meines Gesichts taub wurde, konnte ich in der Gruppe nachschauen und sehen, dass auch andere Patienten das schon erlebt hatten. Und dass es bei ihnen kein Anzeichen eines Schlaganfalls war.
Die Online-Gemeinschaft haben wir Claire Hastie zu verdanken, die wie Nikki in der ersten Welle an Covid erkrankte. Auch ihre zwölfjährigen Zwillingssöhne sind betroffen.
"Am 2. Mai 2020 hat mir eine Freundin einen Artikel aus dem Guardian über Long Covid geschickt. Da habe ich gemerkt, dass es nicht nur mir so geht. Also habe ich die Gruppe gegründet, sowas hatte ich vorher noch nie gemacht. Wir lernen voneinander und sind uns gegenseitig unsere größte Stütze."
Inzwischen ist die Gruppe auf mehr als 43.000 Mitglieder angewachsen. Das spiegelt die steigenden Fallzahlen. Zwar gibt es noch keine offiziellen diagnostischen Tests für Long Covid. Doch das nationale Amt für Statistik gibt seit April eine monatliche Schätzung heraus. Sie bezieht sich auf eine repräsentative Studie, in der Teilnehmer die Dauer ihrer Symptome selbst angeben. Im Juli waren es knapp 950.000 Menschen, die länger als vier Wochen nach der akuten Phase noch nicht gesund waren – darunter fast 400.000, die bereits seit mehr als einem Jahr unter Long Covid leiden.
Trotzdem ließ Boris Johnsons Regierung im Juli, am sogenannten Freedom Day, alle Regeln einschließlich der Maskenpflicht in Innenräumen entfallen. Claire Hastie hat dafür wenig Verständnis:
"Wir hören immer wieder, dass wir lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Mit Long Covid zu leben, ist nicht leicht, wie du weißt. Ich konnte länger als ein Jahr nicht arbeiten und arbeite jetzt viel weniger als vorher. Wir leben kein wirkliches Leben."
Keine Forschungsgrundlage zur Behandlung von Long Covid
Zwar sind in Großbritannien inzwischen 62 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Ob die Impfung vor Long Covid schützt, ist allerdings noch nicht bekannt. Die Studien dazu laufen noch. Davor warnt auch der Immunologe Danny Altmann. Er forscht am Imperial College zu Long Covid.
"Man könnte sagen: Wer Glück hat, zwei Impfdosen zu kriegen, bevor er dem Virus begegnet, wird hoffentlich nie erkranken und daher auch kein Long Covid bekommen. Und wenn wir die Fallzahlen niedrig halten, müssen wir uns in Zukunft vielleicht keine Sorgen um Long Covid machen. Wir können aber nicht einfach hoffen, dass, solange sich nur junge Menschen infizieren oder wir viele asymptomatische Verläufe haben, niemand an Long Covid erkrankt. Wunschdenken ist keine Basis für Medizin."
Aufenthalte in speziellen Reha-Kliniken wie in Deutschland gibt es in England nicht. Der nationale Gesundheitsdienst NHS hat aber reagiert und 89 Long-Covid-Kliniken eingerichtet. Dort stehen Teams aus Spezialisten für eine gründliche Untersuchung bereit: Pneumologen, Kardiologen, Physiotherapeuten.
Die Nachfrage ist groß: Ich muss elf Monate auf meinen Termin warten. Andere kommen schneller dran, weil sie in Gegenden mit kürzeren Wartelisten wohnen oder ihre Hausärzte wissen, wie man Patienten an die Kliniken überweist. Aber selbst ihnen können die Spezialisten keine Aussicht auf Linderung garantieren. Für eine richtige Behandlung in den Long-Covid-Kliniken fehlt derzeit noch die Forschungsgrundlage.
"Großbritannien war ziemlich stolz auf sich, schon so viele Long-Covid-Kliniken eingerichtet zu haben. Aber es handelt sich hier um eine völlig neue Krankheit, für die es weder Tests noch Medikamente gibt. Wie hilfreich können sie sein? Ich beobachte Panik auf beiden Seiten: auf der Seite der Patienten, die verzweifelt Hilfe suchen und auf der Seite der Ärzte, die das zwar sehen, aber keine Ahnung haben, wie sie ihnen helfen können."
Thesen zu den Ursachen von Long Covid
Deshalb versucht Danny Altmann das Syndrom in seinem Labor zu enträtseln. Aktuell kursieren verschiedene Thesen zu den Ursachen von Long Covid. Etwa, dass das Virus im Körper verbleibt, zum Beispiel im Darm.
Eine weitere Theorie vermutet, dass SARS-CoV-2 ähnlich wie Ebola oder Eppstein Barr das Immunsystem stört.
Andere wiederum glauben, dass das Coronavirus Organ- und Gefäßschäden anrichtet.
Besonders viel Aufmerksamkeit liegt derzeit aber auf der These, dass Covid eine neue Autoimmunkrankheit auslöst, wie Diabetes 1 oder Rheumatoide Arthritis. Dafür spricht, dass augenscheinlich mehr Frauen betroffen sind als Männer. Frauen leiden generell häufiger unter Autoimmunkrankheiten. Danny Altmann:
"Wir sind ziemlich überzeugt davon, dass Long Covid eine Autoimmunkomponente hat. In den nächsten sechs bis neun Monaten wollen wir einen Bluttest entwickeln, mit dem man Long Covid diagnostizieren kann."
Der Bluttest soll bestimmte Autoantikörper erkennen, die bei Long Covid-Patienten vermehrt vorkommen. Vereinfacht gesagt verwechselt das Immunsystem die eigenen Zellen mit dem Spike-Protein von SARS-CoV-2 und fängt an, sie zu attackieren. Der Test könnte die Grundlage für die Entwicklung neuer Therapien bilden, etwa solche, die das Immunsystem unterdrücken oder spezifische Autoantikörper unschädlich machen. Und er würde Patienten die Anerkennung geben, die ihnen im Moment fehlt, weil herkömmliche Bluttests, Röntgenaufnahmen und Lungenfunktionstest oft vermitteln, dass alles in Ordnung sei.
Auch aus arbeitsrechtlicher Sicht wäre das ein wichtiger Schritt. Denn derzeit gibt es noch keine Vorlage für Krankengeldanträge.
"Im Moment steht hier, worauf Zyniker gern hinweisen, Aussage gegen Aussage", sagt Danny Altman.
Besser atmen mit Hilfe von Opernsängern
Bis Patienten von dem Autoantikörper-Test profitieren können, ist es jedoch noch ein weiter Weg. Die Long-Covid-Kliniken können in der Zwischenzeit nur versuchen, einzelne Symptome zu lindern, wie etwa die Kurzatmigkeit. Sie ist nach Fatigue das zweithäufigste Symptom der Krankheit. Dazu bedienen sich die Kliniken mitunter unkonventioneller Methoden.
Innerhalb von sechs Wochen sollen Long Covid-Patienten lernen, wieder besser zu atmen. Von Opernsängern. Denn auch wenn es noch keine Studien zu Long Covid gibt, wissen wir zumindest, dass Singen bei anderen chronischen Krankheiten die Lunge fördern kann, erklärt Jenny Mollica. Sie arbeitet für die Nationaloper Englands, kurz ENO, und hat das ENO Breathe-Programm mit entwickelt.
Ich darf an einer der Online-Unterrichtsstunden mit dem Sänger Lea Cornthwaite teilnehmen. Anfangs bittet er uns, einen Zettel in die Kamera zu halten, auf den wir geschrieben haben, wie wir uns fühlen. "Überwältigt" steht da. "Müde". "Erschöpft". Dann lassen wir mit unseren Zauberhänden einen magischen Kuchen erscheinen – und wärmen so spielerisch unsere Stimme auf.
Wir dehnen uns auf unseren Stühlen und nehmen eine aufrechte Haltung ein, damit wir tief in unseren Bauch atmen und so unsere Lungenkapazität voll ausschöpfen können, erklärt Sänger Cornthwaite.
"Als Sänger denken wir viel darüber nach, wie wir richtig atmen können. Wir wollen all jenen ein Bewusstsein dafür vermitteln, die nie übers Atmen nachdenken mussten – bis es nicht mehr richtig funktioniert hat."
Der Imperial Healthcare Trust, zu dem fünf Londoner Krankenhäuser gehören, betreut das Programm aus medizinischer Sicht. Wissenschaftler führen dort derzeit eine randomisierte kontrollierte Studie durch. Dafür werden Teilnehmer zufällig ausgewählt, um die Therapieeffekte objektiv zu messen. Doch schon jetzt überweisen 51 andere NHS-Bezirke aus ganz England Patienten an das Programm der Nationaloper.
Es richtet sich auch an solche, die von sich behaupten würden, nicht singen zu können. Die Teilnehmer müssen keine Arien lernen – das Team hat stattdessen eine Reihe von Schlafliedern zusammengestellt.
Betroffene singen Schlaflieder, die trösten
Das Gute an Schlafliedern ist, dass sie nicht zur Aufführung gedacht sind. Sie sind spontan, haben einfache Texte und sind leicht zu singen. Wir haben nur solche in einer Tonhöhe ausgewählt, die auch Laien liegt.
Am Ende der Unterrichtsstunde bittet uns Lea Cornthwaite, wieder aufzuschreiben, wie wir uns fühlen und den Zettel in die Kamera zu halten. Aus meinem "okay" wurde ein "ruhig", aus dem "überwältigt" einer anderen Teilnehmerin ein "geerdet". Einige Male steht da nun "entspannt". Angst- und Stressreduktion seien willkommene Nebeneffekte des gemeinsamen Singens, meint Programmverantwortliche Jennifer Mollica:
"Es geht darum, wieder die Kontrolle über die eigene Atmung zu gewinnen, aber auch darum, sich mit seinen Symptomen gehört zu fühlen. Viele der Patienten, die gerade bei uns mitmachen, sind seit März 2020 krank und waren seither quasi unsichtbar. Die Schlaflieder, sie schaffen eine beruhigende musikalische Atmosphäre. Sie trösten uns."
Symptome werden als psychologisch abgestempelt
Das Unsichtbarsein belastet viele Long Covid-Patienten zusätzlich. Zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn man die Beiträge in unserer Selbsthilfegruppe liest. Immer wieder erzählen Patienten davon, dass die Ärzte ihnen mangels diagnostischer Tests nicht glauben, sondern die Symptome als psychologisch abstempeln. Auch Helen hat diese Erfahrung gemacht:
"Sie haben mir immer wieder gesagt, dass ich eine Angststörung habe. Der Leiter der Long Covid-Klinik hat in meinen Patientenbrief geschrieben, dass meine Atemprobleme psychologisch wären. Wenn ich die Energie dazu hätte, würde ich mich beschweren."
Helen kann nicht mehr arbeiten. Nikki auch nicht. Die 43-Jährige musste ihren Job als Masseurin wegen der Krankheit aufgeben.
Zwei Drittel der Long Covid-Patienten können ihren Alltag nicht mehr bestreiten. Etwa 20 Prozent sind zu krank, um zu arbeiten, führt das nationale Amt für Statistik aus. Und wenn sie nicht ihre Arbeit verlieren, verlieren sie wenigstens ein Stück ihrer Identität.
"Als Masseurin war ich es immer gewohnt, Menschen zu helfen, sich besser in ihrem Körper zu fühlen. Jetzt habe ich völlig den Bezug zu meinem eigenen Körper verloren. Es ist, als wäre er besessen." So Nikki - auch bei ihr haben sie Depression und Angststörungen diagnostiziert. Aber: Wie könnte man sich in dieser Situation auch anders fühlen?