Musikkonsum im Digitalen
Die Hypothese des Long Tail (wörtlich: Langer Schwanz) in Bezug auf den Erfolg von Nischenprodukten im Internet-Marketing kam in den Nullerjahren auf, wird nun aber angezweifelt. © IMAGO/fStop Images
Die Illusion von der langfristig erfolgreichen Nische
08:37 Minuten
Die Theorie des "Long Tail" behauptet, im Internet verkauften sich kulturelle Nischenprodukte langfristig stärker als große Namen. Hat sie sich als falsch erwiesen? Sie basiere auf einer falschen Annahme, sagt Kulturwissenschaftler Holger Schulze.
Für viele ist es eine sehr charmante Theorie zum Musikkonsum: das Phänomen des Long Tail. Der amerikanische Journalist Chris Anderson hat diesen Begriff im Jahr 2006 kreiert. „Long Tail“ meint „auf lange Sicht“ – und Andersons Theorie besagt, dass im Internetzeitalter auf lange Sicht nicht große Namen am meisten Bücher, DVDs und Musik verkaufen, sondern viele kleine Nischen und Randgenres: Spezialgebiete, die schwer zu finden sind und von denen es nur kleine Auflagen gibt.
Als Beispiele nannte Anderson Internetfirmen wie Ebay oder Amazon, die eben viele Nischenprodukte verkaufen; zwar in kleinen Stückzahlen, aber auf lange Sicht, meinte er, damit mehr Umsatz machen würden als zum Beispiel mit Madonna, Metallica oder Marvel-DVDs. Sprich: Geringere Nachfrage in kleinen Nischen – das sei auf lange Sicht im digitalen Zeitalter erfolgreicher. Das würde heißen, dass vor allem mehr Platz sein könnte für Stimmen aus dem Untergrund, der Gegenkultur, kleinen Subgenres und so weiter.
Jazzhistoriker Gioia: Long Tail funktioniert nicht
Kürzlich hat sich der hochrenommierte amerikanische Jazzhistoriker Ted Gioia mit dieser These noch mal beschäftigt. Er sagt nun in einem Artikel, das Long-Tail-Konzept funktioniere nicht. Nach wie vor seien die großen Studios und Labels auf den Short Tail aus, also: Blockbuster im Wochentakt und haufenweise neue Platten von großen Rappern und Superstars. Je mehr, desto besser. An kleinen, unbekannten Stimmen, ob in Filmen oder Musik, habe die Kulturindustrie kein großes Interesse.
Man habe damals gedacht, „wenn alle drei Monate irgendwer mal irgendetwas kauft, dann ist das schon okay“, sagt Kulturwissenschaftler Holger Schulze von der Universität Kopenhagen, der seit Langem zum Thema Sound und populäre Kultur forscht. „Gioia widerlegt das tatsächlich sehr überzeugend.“
Damals sei die Illusion der 2000er-Jahre noch dagewesen, die Kosten im Digitalen seien gering. „Da kann jeder so sein eigener Shop werden.“ Im Jahr 2022 sei aber klar, dass das nicht so ist. „Mittlerweile wissen wir, auch digitale Marktplätze kosten Geld, brauchen Personal, haben Kundenservice, haben Server, haben alles Mögliche, was immer aktuell sein muss. Das heißt, die Illusion, dass das ein nahezu kostenfreier Markt sei für die Verkäufer und Produzenten, das ist schlichtweg falsch. Das ist eben eine Illusion.“ Die könnten wir heute sehr viel deutlicher sehen als vielleicht im Jahr 2006.
Einfluss und Verkaufszahlen unterscheiden
Worauf viele und auch Gioia hinwiesen, so Schulze: „Selbst Amazon macht sein Geld hauptsächlich mit seinen Webservices, also mit seinen Servern und seinen Datenmanagementangeboten. Das Kaufhaus selbst macht gar nicht so große Gewinne.“
Gioia sagt in seinem Artikel auch nicht, der Unterground sei weg. Aber er sagt, der Underground habe heute zumindest in zunehmendem geringerem Maß kulturellen Einfluss. Wichtig sei aber zu unterscheiden zwischen dem Einfluss, den ein Kulturprodukt haben kann, und dem, was es finanziell einbringt, betont Schulze.
„Die Verkaufszahlen, die die großen Blockbuster zwischen 'Avatar'-, 'The Lord of the Rings'- und 'Harry Potter'-Franchise, Marvel-Franchise erzeugen, ist natürlich extrem wichtig für die Gegenwart.“ Aber es stelle sich die Frage, so Schulze, ob das tatsächlich unser Denken so stark anrege oder präge, oder ob es da nicht doch eine gewisse Grenze gebe.
In Nischen kann Neues entstehen
Auch Gioia betone am Ende seines Artikels, dass er rein über die Verkaufszahlen spreche. „Und da muss man einfach sagen, die großen Blockbuster sind nahezu dominant, auch im Filmbereich, auch im Musikbereich. Die einzelnen Produkte sind marginal“, gibt Schulze Gioia wieder. Doch gerade in diesen marginalen Nischen könne wirklich etwas Neues entstehen.
„Ich glaube, dass es für die kleineren Acts und für die kleineren Musiker ja weiterhin diese Plattform gibt. Aber die Illusion, dass man sich dadurch schon am Leben halten könnte, die ist, glaube ich, flötengegangen“, so Schulze.
(abr)
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