Lorenz Just: "Am Rand der Dächer"
Dumont, Köln 2020
272 Seiten, 22 Euro
Berlin Wonderland aus Kinderperspektive
14:55 Minuten
Lorenz Just hat einen Roman über das Leben in der Berliner Mitte der 90er-Jahre geschrieben. Er ist selbst dort groß geworden und schreibt nun aus der Perspektive eines Kindes. "Wir haben diese Freiheit erlebt", sagt er. Dann sei sie verschwunden.
Es ist der erste Roman von Lorenz Just, zuvor hat er schon einen Band mit Erzählungen veröffentlicht. Mit "Am Rand der Dächer" kehrt er an den Ort seiner Kindheit zurück: ins Berlin der 90er-Jahre. Er, 1983 in Halle an der Saale geboren und mit den Eltern 1988 an die Spree gezogen, erzählt durch die Augen Andrejs, der mit seinem Bruder Anton und seinem Freund Simon dieses chaotische Viertel Berlin-Mitte durchstreift.
Inzwischen ist Just nach Jahren im Ausland und andernorts in Deutschland wieder zurückgezogen nach Berlin, und zwar in den Bezirk seiner Kindheit. "Es ist mehr als einfach nur nach Mitte ziehen", sagt er dazu, "schon irgendwie ein Heimkehren, obwohl das rational nicht unbedingt erklärbar ist, weil sich vor allem die Häuser sehr geändert haben. Ich glaube, die Plattenbauten in der Linienstraße und in der Großen Hamburger sind die einzigen, die inzwischen eigentlich noch urtümlich sind, weil es sich nicht lohnt, die zu aufzumöbeln."
Bewusst aus der Kinderperspektive
Er habe sich sehr bewusst für die Erzählung mit den Augen eines Kindes entschieden, sagt Lorenz Just: "Das war mein Anliegen, diese Perspektive der Kinder in den Fokus zu stellen."
Die Perspektive des Erwachsenen sei seiner Meinung nach schon andernorts erzählt worden, insbesondere die der jüngeren Erwachsenen, die ins "abenteuerliche Wonderland" mit Party und Hausbesetzung und so weiter gekommen seien. Da habe er gedacht: "Ich brauche mich damit nicht mehr beschäftigen, das wurde für mich getan."
So wird mit Andrej also ein Kind zum Ich-Erzähler, um diese Zeit zu vergegenwärtigen. "Und der hat natürlich nicht groß über die Eltern nachgedacht", erklärt Lorenz Just. "Was, glaube ich, für Kinder eigentlich auch gesund ist und normal, dass sie sich sozusagen nicht die ganze Zeit die Sorgen der Eltern aufhalsen. Das müssen die Eltern schon hinkriegen."
Die Elterngeneration sei viel mit sich beschäftigt gewesen, seine seien gewiss keine "Helikopter-Eltern" gewesen, wie es heute heißt. "Es gab einen deutlichen Unterschied zu heute, die Straßen waren natürlich ein bisschen ruhiger, weniger Verkehr", schildert Just seine Erinnerungen an die Kindheit in dem Bezirk. "Und man hat mehr Vertrauen gehabt, dass wir schon wissen und wussten, was wir tun, wenn wir den Tag unterwegs sind."
Kindheit als Naturzustand
"Wir haben diese Freiheit erlebt. Und dann haben wir nach und nach gemerkt, wie sie verschwand", sagt Just. Als Kind erlebe man die Welt ja selbstverständlich: "Wir wussten nicht unbedingt: Vorher war es so, und jetzt ist es alles weg – wie vielleicht Erwachsene." Es sei eine Art von Naturzustand gewesen: "Die natürliche Ordnung der Welt damals war chaotisch. Und dann wurde dieses Berlin bis heute immer mehr ausdefiniert und die Räume wurden besetzt und benannt und ausgedeutet."
Die Gestaltung der Stadt in der Folge habe "völlig ohne unser Zutun" stattgefunden, sagt Lorenz Just. Womöglich liege es auch daran, dass er nie das Gefühl hatte, "dass wir gefragt sind". Vielleicht wirke sich das auch bei der Distanz zu politischem Engagement seiner Generation aus.
Darüber habe er im Rückblick nachgedacht, auch angesichts der jungen Leute heute, die sich für die Welt engagieren. Die junge Generation denke eher: "Wir müssen das tun, das tut niemand für uns."
(mfu)