Obdachlos unter Wolkenkratzern
Los Angeles trägt den Titel "Obdachlosen-Hauptstadt“ der USA. Rund 40.000 Menschen haben keinen festen Wohnsitz. Sie leben in Notunterkünften, auf der Straße, in Parks, Autos oder bei Freunden. Alle zwei Jahre findet eine Obdachlosenzählung statt, gerade wieder.
"In the last six months where have you been spending the night? / Outside - Outside on the street? / Outside on the street."
Auf einer Holzbank im Wartesaal der Los Angeles Mission sitzen zwei Frauen, Doan mit Klemmbrett und Stift, blaues T-Shirt. Ihr gegenüber Shana, müde Augen, schwarzes Kopftuch und einen Koffer neben sich.
"Wo hast du in den letzten sechs Monaten geschlafen? Welcher ethnischen Gruppe fühlst du dich zugehörig?", fragt Doan und weiter "Lebst du zum ersten Mal auf der Straße? Hast Du Gesundheitsprobleme?"
Shana ist obdachlos und berichtet der freiwilligen Helferin Doan vom Leben in Los Angeles ohne festen Wohnsitz. Es ist sehr frustrierend, erzählt die 48-Jährige.
"Es macht mich verrückt. Ich will ein besseres Leben, aber dafür brauche ich eine Unterkunft. Sonst finde ich keinen Job. Du musst deine Sachen bügeln, dich jeden Tag duschen, wenn du dich irgendwo bewirbst. Dazu kommt das Stigma. Niemand will Obdachlose einstellen. Sie denken du stiehlst, nimmst Drogen, bist faul und unzuverlässig. Es ist schwer."
Doan macht Kreuze in dem Fragebogen und nickt verständnisvoll. Die 35 Jahre alte Buchhalterin hat sich freiwillig gemeldet, um die Befragung durchzuführen. Sie war selbst sechs Monate lang obdachlos. Das ist einige Jahre her, aber sie hat damals in einem Park geschlafen, nachdem sie ihren Job verlor, drogenabhängig wurde und ihr Mann sie aus der Wohnung warf.
"Ich habe einen Rollkoffer hinter mir hergezogen. Kleidung und eine Decke waren darin. Ich habe noch mal von vorne angefangen. Ich wusste nicht wohin und hatte Angst."
Einkaufswagen prall gefüllt mit Klamotten und Habseligkeiten
Doan macht sich mit vier weiteren Freiwilligen auf den Weg. Es ist später Abend. Draußen direkt neben der Notunterkunft auf dem Bürgersteig: improvisierte Zeltlager, Einkaufswagen prall gefüllt mit Klamotten und Habseligkeiten. Dazwischen Menschen in Schlafsäcke oder Decken gerollt, Papierteller mit Essensresten und jede Menge anderer Müll. Dunkle Gestalten bewegen sich unter dem gelblichen Licht der Straßenlaternen.
"Passt auf Euch auf!", ruft einer Doans Gruppe zu, die mit der Zählung begonnen hat: über 20 Obdachlose im ersten Straßenblock, dazu sechs Zelte und zwei Autos, in denen Menschen leben. Ein schlaksiger Mann schiebt sein Rad an den Lagern vorbei: rote Jacke, Wollmütze, Kopfhörer um den Hals.
"In the last month where have you been spending your nights? / In Downtown / On the streets? / Yes!"
Geduldig beantwortet James Fragen während er eine Fahrradlampe über das Klemmbrett hält: Zweieinhalb Jahre auf der Straße, vorher im Gefängnis, Tagelöhner, zwei Jahre Navy-Einsatz im Irakkrieg. Beim Weiterziehen fängt er an zu schimpfen. Das Versprechen des Bürgermeisters, in wenigen Jahren Obdachlosigkeit in Los Angeles zu beenden sei ein Witz. Was der wirklich wolle, sei Platz für mehr glänzende Wolkenkratzer.
"Die Leute, die da oben in den Lofts wohnen, beschweren sich: sie können ihre Hunde nicht ausführen, weil hier die Zelte sind. Sie wecken dich um sechs Uhr morgens, Zeit die Zelte abzubauen. "
Nur den Status Quo erfassen
Für Beschwerden ist kein Platz in den Umfrageformularen. Die Freiwilligen sollen nur den Status Quo erfassen: gibt es mehr oder weniger Obdachlose als vor zwei Jahren? Sind sie im Durchschnitt älter oder jünger? Welche gesundheitlichen Probleme haben sie? Die Ergebnisse sollen zeigen, wo dringend Hilfen benötigt werden und wie man Obdachlosigkeit vorbeugen kann.
Vorbei an einem leeren Geschäft, aus dem Musik und Marihuanaschwaden auf den Bürgersteig ziehen. Eine willkommene Abwechslung zum vorherrschenden Gestank aus saurem Schweiß, dreckiger Kleidung und Urin.
Nach drei Stunden kommen Doan und ihre Gruppe erschöpft zurück in die Notunterkunft Los Angeles Mission. Shana ist auf der Holzbank neben ihrem Rollkoffer eingenickt. Jetzt zieht sie weiter. Sie hält es nicht aus, in einer Unterkunft oder auf der Straße zwischen Obdachlosen zu schlafen. Zu viele Verrückte, sagt sie. Aus dem Bahnhof und der Bibliothek wurde Shana vertrieben. Jetzt hat sie einen neuen Stammplatz.
"Ich schlafe draußen auf der Bank an einer Bushaltestelle. Ich habe Asthma, halte den Rauch von Drogen nicht aus. Ich geh ein paar Blocks weiter und schlafe bis halb fünf oder so. Das sind zwei, drei Stunden Schlaf."
Doan gibt ihre ausgefüllten Fragebögen ab. Auch sie geht zum Bus. Allerdings fährt sie nach Hause, zu einem eigenen Bett mit Dach über dem Kopf.
"Ich weiß das sehr zu schätzen. Deshalb mach ich diese Arbeit. Ich kann mich in sie hineinversetzen. Jeder sollte wissen: In Los Angeles gibt es nicht nur reiche Leute, sondern viele Obdachlose, die im wahrsten Sinne des Wortes unter Palmen leben."