Bürgerbeteiligung in Gremien

Mehr Lotterie wagen

Geschäftsleute bewegen sich und sitzen um einen runden Tisch
Wer keine organisierte Lobby hat, ist bei der Besetzung vieler Gremien von vornherein raus, kritisiert Timo Rieg. © imago / Ikon Images / Luciano Lozano
Eine Forderung von Timo Rieg |
Oft sind es Vereine und Verbände, die als Vertreter der Bürger in Gremien wie etwa dem Rundfunkrat sitzen. Aber diese Organisationen repräsentieren die Gesellschaft nicht als ganze, meint der Publizist Timo Rieg. Das könne nur eine Zufallsauswahl.
Wer an politische Macht denkt, wird an Parteien denken. Und vielleicht noch an PR, an mehr oder minder finstere Mächte, die Politikern etwas einflüstern wollen. An einen großen Bereich wird meist nicht gedacht: Vereine und ähnliche Zusammenschlüsse. Die machen nicht nur Lobbyarbeit für sich selbst, sondern sie sind an vielen Stellen in die Organisation des Gemeinwesens eingebunden, auch als Entscheider.
Doch diese Form der Bürgerbeteiligung oder Einbindung der sogenannten Zivilgesellschaft ist nicht nur eine Bereicherung gegenüber reiner Parteienherrschaft. Gut gemeint, schließt sie letztlich die meisten Menschen aus. Deshalb sollte eine Alternative erprobt werden. 
Nehmen wir als naheliegendes Beispiel die Organisation des Rundfunks. Ob privat oder öffentlich-rechtlich, überall haben unter anderem Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgeber-, Sozial- und Naturschutzverbände ein Mitspracherecht. Sie beschicken die grundlegenden Gremien, die Rundfunk-, Fernseh- oder Medienräte, beim Deutschlandradio Hörfunkrat genannt.

Nicht alle Gruppen werden berücksichtigt

Da diese Gremien jeweils nur einige Dutzend Mitglieder haben, werden selbstverständlich nicht alle Vereine und Körperschaften berücksichtigt. Zu den 50 Mitgliedern des Hörfunkrats dieses Senders gehören zum Beispiel je ein Vertreter vom Verband der Internetwirtschaft, des Landessportbundes Berlin, des Deutschen Mieterbundes Landesverband Hessen und des Landesmusikrates Niedersachsen.
Verständlich, dass viele weitere Gruppen dabei sein wollen. Der Lesben- und Schwulenverband hat einen Sitz, aber welche Organisation vertritt die Heterosexuellen? Und die Perspektive organisierter Enthaltsamkeit muss auch nicht zwingend von dem einen Vertreter der katholischen Kirche eingebracht werden, schließlich gibt es da ja mehr als nur zölibatär lebende Priester.

Die Gesellschaft per Zufallsstichprobe abbilden

Wo immer eine Expertenanhörung ansteht oder ein Beirat gebildet werden soll: Verbände haben gute Chancen auf Beteiligung. Wer allerdings keine organisierte Lobby hat, ist raus. Zudem sind Vertreter derjenigen Verbände, die zum Zuge kommen, keineswegs repräsentativ für ihre Mitglieder. Schaut man sich die Zusammensetzungen an, dominieren Akademiker, dominieren überdurchschnittlich gut Verdienende. Gerechtfertigt wird dies mit benötigter Expertise: Man müsse sein Themenfeld sehr gut kennen und dies kommunizieren können.
Doch so bekommen wir Versammlungen von Experten und gewieften Interessenvertretern. Sie sind unverzichtbar beim Beratungs-Input. Aber sie sind nicht "der Souverän", nicht "die Allgemeinheit", sie sind nicht "repräsentativ für die Gesellschaft", wie es etwa die Medienkommission NRW von sich behauptet. Wo "die Gesellschaft" ein Mitspracherecht haben oder sich selbst organisieren soll, da schaffen 40 bis 60 Lobbyisten mehr Verzerrung als Repräsentativität.
Wo "die Gesellschaft" gefragt ist, brauchen wir wie bei jeder Meinungsumfrage etwa 1000 Personen, und diese müssen per Zufall ausgeguckt werden. Dann haben wir eine Stichprobe der Bevölkerung, in der sowohl alle heute privilegierten Gruppen in ihrem realen Verhältnis vertreten sind als auch all jene, die bisher unberücksichtigt bleiben.

Alle kämen zu Wort

Lieber Himmel, wie soll denn solch eine bunte Menschenmasse vernünftig arbeiten können? Das geht, sehr gut sogar und an anderer Stelle seit Jahrzehnten erprobt, nämlich jeweils in Kleingruppen statt in einem Riesenplenum.
Das bringt zahlreiche weitere Vorteile, unter anderem kommt jeder zu Wort und es gibt keine Fensterreden. Was zu klären ist, wird über einen vielstufigen Prozess schrittweise in wechselnden Kleingruppen erörtert. Am Ende steht nicht nur, was die Mehrheit der Bevölkerung zu einer Sache denkt, sondern aufgrund der Methode meist ein Votum auf sehr breiter Basis.
Die Ausgelosten haben gar kein anderes Interesse, als eine für möglichst viele passende Entscheidung zu erarbeiten. Danach nämlich, das ist elementar, endet ihr Mandat. Es gibt keine Verlängerung. In der Theorie kann man nun unzählige Einwände entwickeln. Allein: Wir haben es noch nicht probiert, von Bürgerräten zu Einzelthemen abgesehen. Warum? Völlig unschädlich kann man neben bestehenden Strukturen mal ausgeloste Bürger dasselbe beraten lassen. Die Ergebnisse werden sich unterscheiden, andernfalls bräuchte es den Aufwand nicht. Ob sie besser oder schlechter sind, möge dann "die Gesellschaft" entscheiden.

Timo Rieg ist Buchautor und Journalist. Seine zuletzt erschienen Bücher sind „Demokratie für Deutschland“ und der Tucholsky-Remake „Deutschland, Deutschland über alles“. Zum Thema „Bürgerbeteiligung per Los“ bietet Timo Rieg zudem eine Website mit Podcast an.

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