"Lot"-Uraufführung in Hannover

Uralte Geschichte erinnert an Syrien heute

Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck.
Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck. © Deutschlandradio - Andreas Buron
Jenny Erpenbeck im Gespräch mit Ute Welty |
Am Samstagabend wurde die Oper "Lot" von Giorgio Battistelli in Hannover uraufgeführt. Bei Bearbeitung des alttestamentarischen Stoffes gehe es um "Fremdheit und Abschied von der Heimat", sagte Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, die das Libretto geschrieben hat.
Die alttestamentarische Geschichte von Lot und dessen Rettung aus Sodom ist Gegenstand der Oper "Lot" von Giorgio Battistelli, die am Samstagabend in Hannover uraufgeführt wird.
In "Lot" gehe es um Fremdheit und Abschied von der Heimat, sagte Librettistin Jenny Erpenbeck im Deutschlandradio Kultur. "Die Themen, die da verhandelt werden, sind aktuell." So gebe es Menschen, die aus ihren zerstörten Städten fliehen müssten, und aufgebrachte Volksmengen, die Fremde nicht in ihre Städte lassen wollten. "Als ich jetzt die Proben zu 'Lot' gesehen habe, habe ich wirklich gedacht, ich sehe da eigentlich den syrischen Bürgerkrieg auf der Bühne", sagte die Schriftstellerin.

Lot war Nomade, seine Frau nicht

Erpenbeck interpretiert auch die Entscheidung von Lots Frau neu, sich trotz göttlichen Verbots beim Verlassen Sodoms umzudrehen. So sei diese Entscheidung weder Zufall noch Ungehorsam geschuldet. "Ich glaube, es geht um was Grundlegendes", betonte die Autorin. "Es geht um die Frage danach, ob man überhaupt noch neues Leben haben kann und will, ob man den Neuanfang aushält."
Denn während Lot Nomade gewesen sei und gelernt habe, Dinge zurückzulassen, stamme Lots Frau aus Sodom. "Sie weiß, dass sie in die Ungewissheit geht, sie weiß nicht, was von der Welt noch übrig sein wird nach diesem Untergang. Und sie entscheidet sich einfach gegen das neue Leben und für das alte, was sie kennt, und damit für den Untergang."

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Wenn man den Bogen spannen will zwischen 2001 und 2016, dann liegen zwischen dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Thomas-Mann-Preis ziemlich genau 15 Jahre, jede Menge Literatur und vor allem der Name Jenny Erpenbeck. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Gehen, ging, gegangen", der für eine Auszeichnung auf der Buchmesse Leipzig hoch gehandelt wurde, und jetzt präsentiert Jenny Erpenbeck ein Opernlibretto, das sich mit der Geschichte von Lot beschäftigt, dem einzig Gerechten in der Stadt Sodom, der fliehen darf, und dafür einen hohen Preis bezahlt: die Frau erstarrt zur Salzsäule, weil sie sich unerlaubterweise noch einmal umdreht, und Lot selbst verliert sich in einem Leben ohne soziale Kontrolle.
((Einspieler))
Ein kleiner Ausschnitt aus "Lot", komponiert von Giorgio Battistelli, und das Libretto stammt, wie gesagt, von Jenny Erpenbeck. Guten Morgen und herzlich Willkommen in "Studio 9"!
Jenny Erpenbeck: Ja, hallo!

Ist Neuanfang überhaupt möglich?

Welty: Selbst an dieser kurzen Impression merkt man ja, das ist ziemlich starker Tobak aus dem Alten Testament. Wie fasst man eine solche Geschichte, eine Geschichte wahrhaft biblischen Ausmaßes, für ein Opernlibretto zusammen?
Erpenbeck: Ich denke, es gibt so verschiedene Arten von Stoffen. Das ist eine sehr, sehr grundlegende Geschichte, die da erzählt wird, wo es um Fremdheit geht, wo es um Abschied geht von der Heimat, man darf sich nicht umdrehen nach dem, was man zurücklässt. Es wird auch die Frage gestellt danach, was überhaupt ein Neuanfang ist, ob ein Neuanfang möglich ist, worin Rettung besteht, also ob Rettung darin besteht, dass man eine untergehende Stadt verlassen darf oder ob Rettung eigentlich noch den Neuanfang auch einschließen sollte.
Welty: Die Geschichte von Lot ist ja durchaus eine verzweifelte, aber auch eine, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint, weil sie eben so drastisch und dramatisch daherkommt. Wo setzen Sie an, um den Bogen ins 21. Jahrhundert zu schlagen?
Erpenbeck: Ja, ich finde, die Themen, die da verhandelt werden, die sind aktuell. Also wir wissen selber, es gibt aufgebrachte Volksmengen, die Fremde nicht in ihre Städte lassen wollen. Es gibt andererseits Menschen, die aus ihren zerstörten Städten fliehen müssen. Also als ich jetzt die Proben zu "Lot" gesehen habe, habe ich wirklich gedacht, ich sehe da eigentlich den syrischen Bürgerkrieg auf der Bühne.
Es ist für mich ganz nah, wenn man merkt, also wenn man anfängt, darüber nachzudenken, wie sich das konkret angefühlt haben muss, wie Lot die Stadt verlässt, wie seine Frau weggeht, die dort geboren ist, er ist ja nicht von dort, wie die Töchter weggehen, die kurz vor ihrer Hochzeit eigentlich sind und die in diesem Untergang von Sodom auch ihre Verlobten verlieren, dann wird einem klar, dass dieses Abschiednehmen auch ein hochaktuelles Thema ist.

Auch eine Geschichte über Männer und Frauen

Und dann, als ich mich ein bisschen intensiver auch mit der konkreten Handlung befasst habe, ist mir auch klar geworden, dass es auch eine Geschichte über Männer und Frauen ist. Lot ist nach dem Untergang der Stadt Sodom zwar gerettet, aber im Grunde genommen verloren und vergessen von seinem Gott, und die Tochter übernimmt die Organisation des Lebens danach. Also, die Tochter wird eine ganz starke Figur, und das hat mich auch interessiert.
Welty: Wo Sie das gerade ansprechen: Sie geben der Geschichte ja in mindestens zwei Punkten einen besonderen Spin. Zum einen trifft Lots Frau eine bewusste Entscheidung, als sie sich umdreht und dann eben zur Salzsäule erstarrt, und zum anderen wird Lot von seinen Töchtern nicht verführt, sondern er vergewaltigt sie. Was hat Sie veranlasst, diese Akzente zu setzen?
Erpenbeck: Ja, es ist immer so eine Frage, wie die Frau von Lot dazu kommt, sich umzudrehen, und ich glaube einfach nicht, dass sowas zufällig passiert.
Welty: Oder aus Ungehorsam.
Erpenbeck: Der bloße Ungehorsam wäre eigentlich zu klein für so eine Szene. Ich glaube, es geht um was Grundlegendes: Es geht um die Frage danach, ob man überhaupt noch neues Leben haben kann und will, ob man den Neuanfang aushält. Während Lot Nomade ist und gewöhnt ist, von Ort zu Ort zu ziehen, eine Weile ist er sesshaft gewesen in Sodom, aber er ist schon jemand, der, glaube ich, gelernt hat, Dinge zurückzulassen, aber seine Frau ist aus Sodom. Ja, sie weiß, dass sie in die Ungewissheit geht, sie weiß nicht, was von der Welt noch übrig sein wird nach diesem Untergang, und sie entscheidet sich einfach gegen das neue Leben und für das alte, was sie kennt, und für den Untergang damit.

"Flucht mein Thema, seit ich Bücher schreibe"

Welty: Es ist nicht das erste Mal, dass Sie sich mit Flucht und Vertreibung und den Konsequenzen daraus beschäftigen. Darum ging es auch in Ihrem jüngsten Roman, nämlich "Gehen, ging, gegangen", jetzt eben dieses Libretto. Ist das eine die Fortsetzung des anderen, vielleicht noch verdichteter, noch künstlerischer?
Erpenbeck: Ich würde sagen, eigentlich ist das Thema Flucht schon mein Thema, seit ich Bücher schreibe. Das sind so ganz grundlegende Fragen, die in meinen Büchern eigentlich immer wieder auch gestellt werden. Als ich die Geschichte bewusst gelesen habe, ist es mir plötzlich so klar gewesen, dass es eine Geschichte ist, die ich gerne erzählen will.
Welty: Keine Oper ohne Musik, natürlich nicht, und diese stammt in diesem Fall vom Italiener Giorgio Battistelli, der seine Musik eine expressive Musik nennt. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass der Text, dass das Libretto ebenso expressiv sein muss?
Erpenbeck: Ja, man muss bei der Oper, glaube ich, anders schreiben als beim Schauspiel. Man muss ein starkes Zentrum als Ausgangspunkt setzen, damit dem Komponisten, glaube ich, auch tatsächlich ein musikalischer Raum dazu einfällt und auch ein Weg, den er von da aus gehen kann. Also die Sprache ist – ja, wie soll ich sagen – klarer und stärker und vielleicht holzschnittartiger als Schauspielstücksprache, die ein bisschen näher am Alltag dran ist. Bei der Oper ist es auch so, dass man den Text durch das Singen einfach schwerer oder auch anders versteht, geht also auch um Klänge, um Klang von Sprache, um Satzmelodie. Ich war froh, dass ich durch meinen Beruf als Opernregisseurin vor – ja, muss man schon sagen – fast 15 Jahren, wo ich damit …
Welty: Sie haben Musiktheaterregie studiert, und das unter anderem bei Heiner Müller.

Oper rückt alles in eine andere Dimension

Erpenbeck: Ja, ich kenne die Schwierigkeiten der Sänger, ich kenne auch die technischen Gegebenheiten an Theatern. Also man braucht manchmal eine Musik für einen Auftritt, für einen Abgang vom Chor. Das war natürlich gut für den Text. Also, ich habe einfach auch solche Dinge bedacht, und Battistelli, der ja auch ein wirklicher Theaterpraktiker und sehr, sehr erfahrener Theaterkomponist ist, hat es auch zu schätzen gewusst.
Welty: Zu schätzen gewusst! Was reizt Sie an Oper nach wie vor?
Erpenbeck: Gesang ist einfach eine wunderbare Form, sich auszudrücken. Oper setzt auch immer so ein ganz merkwürdiges Bezugssystem, in dem die Gesetze, nach denen wir uns sonst so im Alltag bewegen, einfach nicht mehr gelten. Also, das hebelt einfach Dinge aus, die wir kennen, und ist per se was Fremdes. Es kommt eben dadurch, dass die Sprache gesungen wird, dass man ein Riesenorchester hat. Ja, es macht eine andere… es erzeugt andere Bewegungen auf dem Theater, es erzeugt andere Bilder für das Bühnenbild. Es rückt alles noch mal in eine andere Dimension, und es hat tatsächlich sowas Fremdes an sich, selbst wenn man den Leuten näherkommt, die sich da bewegen, aber es ist doch so ein Zeichensystem der anderen Art.
Welty: Jenny Erpenbeck hat das Libretto zu "Lot" verfasst, die Oper von Giorgio Battistelli, feiert heute Abend in Hannover Premiere, und schon nach 23 Uhr in "Fazit" können Sie hören, wie Premiere verlaufen ist und wie sie ankam, und ich jedenfalls sage herzlichen Dank an Jenny Erpenbeck für das Gespräch und den Besuch in "Studio 9"
Erpenbeck: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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