Lothar Frenz: "Wer wird überleben? Die Zukunft von Natur und Mensch"
Rowohlt, Berlin 2021
446 Seiten, 24 Euro
Lasst uns gute Parasiten sein
06:09 Minuten
Der Mensch ist ein Parasit, die Natur sein Wirt – mit diesem Bild beschreibt der Biologe Lothar Frenz unser Verhältnis zur Umwelt. In seinem Buch "Wer wird überleben?" fordert er: Die Menschheit muss die Natur nutzen, ohne sie zu zerstören.
Es gehört schon eine Portion Mut zur Provokation dazu, ein Sachbuch über die Natur mit einem ekligen Parasiten zu beginnen: dem Guineawurm, heimisch in Zentralafrikas Gewässern.
Der wächst im Körper des Menschen zu einem meterlangen Schlangenmonster heran und stößt schließlich durch die Bauchdecke nach außen. Versucht der Betroffene, die heiße Entzündung zu kühlen, spuckt der Kopf des Wurms Hunderte Larven ins Wasser.
Ein (fast) perfektes Gleichgewicht
Der Guineawurm gehört zur Gruppe der Parasiten und Lothar Frenz nimmt ihn als Beispiel für einen bislang wenig erforschten Bereich der Natur – den der zahllosen Parasiten, die in uns leben, Würmer, Flöhe, Zecken, Bakterien, Viren.
Sie sind für einige Organismen wichtige Grundnahrung, halten andere so in Schach, dass sie sich nicht übermäßig vermehren und triggern bei manchen das Immunsystem. Normalerweise töten Parasiten ihren Wirt nicht, denn dann sterben ja auch sie.
Ein (fast) perfektes Gleichgewicht, das Frenz als idealen Umgang des Menschen mit der Natur propagiert: Beide profitieren von einander.
Eine sehr persönliche Ansprache
In sechs Kapiteln führt der Autor aus, wie Natur funktioniert, was sie leistet, wo sie zerstört wird und wie sie sich durch gezielte Interventionen regenerieren kann.
Lothar Frenz spricht seine Leserinnen und Leser persönlich an, fragt sie zu Beginn jedes Kapitels zum Beispiel, welches Tier sie angesichts des Artensterbens retten würden, auf welches sie verzichten könnten. Er fordert so zum Nachdenken über die eigenen Beweggründe auf.
Ein verblüffender Ansatz, durchaus überzeugend, weil wir Entscheidungen treffen müssen.
Bespiel: Yellowstone
Die faszinierende Komplexität der Natur zeigt der Autor unter anderem eindrucksvoll am Beispiel des amerikanischen Nationalparks Yellowstone.
Seit dort Wölfe wieder angesiedelt wurden, blüht die Landschaft wieder auf. Aus Angst vor ihnen meiden die Wapiti-Hirsche fortan bestimmte Bereiche, sodass auf zuvor kahl gefressenen Flächen wieder Espenwälder wachsen. Die Wölfe reduzieren zudem nicht nur den Hirschbestand, sondern auch die Zahl der Kojoten. Daraufhin explodieren die Bestände kleiner Nagetiere. Wovon wiederum Eulen, Füchse und Greifvögel profitierten. Kurz: Die ursprüngliche Natur erholt sich.
In solchen Beschreibungen spürt man den Journalisten. Die reportageartigen Texte sind lebendig und erzählen anschaulich von den jeweiligen Projekten. Lothar Frenz hat mit Wissenschaftlern, Artenschützern und Rangern geredet, und er zitiert aus einschlägiger Fachliteratur.
Gute Mischung aus Selbsterlebtem, Fakten und Nachrichten
Es gibt kein Thema zum Arten- und Naturschutz, das der Biologe nicht anschneidet und mit konkreten Beispielen belegt. Und manches kennt man vielleicht schon – etwa die Wilderei von Nashörnern oder das Artensterben durch die Feuer in Australien. Dann bekommen die Texte etwas von einem Zeitungsbericht. Das stört aber nicht. Das Buch lebt durch diese Mischung aus Selbsterlebtem, Fakten und Nachrichten.
Am Ende des Buches landet er wieder beim Parasiten und fordert, dass wir Menschen uns selbst wie ein guter Parasit verhalten sollten: also unseren Wirt, die Natur, nicht schädigen, sondern nutzten sollen – ohne sie zu zerstören. Denn damit schaden wir uns selbst!
Ein ungewöhnlicher Gedanke, ein anregendes Buch, ein beachtenswerter Blick auf die Zukunft der Natur – und damit die des Menschen.