Lothar Müller: "Adrien Proust und sein Sohn Marcel. Beobachter einer erkrankten Welt"
Wagenbach Verlag, Berlin 2021
224 Seiten, 22 Euro
Ärzte als gierige und geltungssüchtige Götterdarsteller
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Der Literaturkritiker Lothar Müller hat ein lesenswertes Buch über Cholera, Hygiene und Quarantänekonzepte des 19. Jahrhunderts geschrieben. Als Hauptpersonen tauchen der Seuchenarzt Adrien Proust und dessen Sohn, der große Schriftsteller Marcel, auf.
Marcel Proust, der Chronist der sozialen Auf- und Abstiegsdynamiken am französischen Fin de Siècle, wäre am 10. Juli 150 Jahre alt geworden. Verschiedene Bücher würdigen dieses Jubiläum. Eines davon stammt von dem Literaturkritiker Lothar Müller. Es handelt allerdings von mehr als nur von Marcel - auch dessen berühmter Vater, der Seuchenarzt Adrien Proust, spielt eine tragende Rolle.
Das, was Müller dabei herausarbeitet, berührt auf gespenstische Weise die Fragen unserer Zeit. Vor und während der Dritten Republik gab es mehrere Cholera-Wellen in Frankreich. Eine Krankheit mit oft tödlichen Folgen, deren Verbreitung über Nadelöhre wie den in den 1860er-Jahren eröffneten Suez-Kanal erforscht wurden.
1883/84 entdeckte der Bakteriologe Robert Koch den für die Cholera verantwortlichen Kommabazillus. Prousts Vater korrespondierte mit ihm und vielen anderen Medizin-Stars der Epoche.
Christian Drosten in der Rolle des Adrien Proust
Müller rekonstruiert anhand von Adriens Engagement in der Seuchenbekämpfung die Debatten über Sinn und Nutzen von Hygienekonzepten und Quarantäneverordnungen. Diese bekommen unter dem Eindruck von Corona einen Wiederaufführungscharakter. Christian Drosten in der Rolle des Adrien Proust.
"Hygieia, die Tochter des Äskulap, ist eine strenge Göttin, die Opfer verlangt", heißt es in einer Rede des Seuchenarztes. Und Müller setzt nach: "Den Forderungen der Göttin Hygieia zu folgen ist eine patriotische Pflicht nach der Niederlage, die am Beginn der Republik stand." Gemeint ist die Niederlage im deutsch-französischen Krieg.
Proust Junior, der nicht nur einen berühmten Mediziner zum Vater, sondern auch einen berühmten Chirurgen zum Bruder hatte, lässt nun das medizinische Wissen der Epoche in sein Roman-Projekt "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" einfließen. Und er tut dies auf unterschiedliche Weise.
Zum einen auf der Ebene der Metaphern, die er verwendet. Indem er etwa die Liebe Swanns mit dem Kommabazillus vergleicht. Zum anderen, indem er das medizinische Wissen der Zeit in seinen berühmten Salongesprächen unterbringt.
Der Roman war immer schon ein Allesfresser
"Der Roman", heißt es bei Müller, "immer schon ein Allesfresser, trieb im Werk Marcel Prousts seine enzyklopädische Ambition auf die Spitze und zog dazu auch das medizinische Wissen in seine Laboratorien der Sprachmischung hinein. Die öffentliche Hygiene, die Adrien Proust repräsentierte, war ihrerseits eine Allesfresserin. Sie dehnte ihre noch junge Macht als Instanz der Prävention auf alle Lebensbereiche aus."
Um es anschaulicher zu machen: Waren es zu Balzacs Zeiten noch vor allem Juristen, die ihr Unwesen in der Welt des Großbürgertums trieben, sind es bei Marcel die Ärzte. Es gibt ihrer viele. Die meisten sind ausgesprochen inkompetent, geldgierig und geltungssüchtig.
Ein Großteil der Komik, die in Prousts "Recherche" steckt, verdankt sich der Darstellung von Ärzten in der komödiantischen Tradition Molières. Die Götter in Weiß sind bei Proust auch schon Götterdarsteller in einem enormen gesellschaftlichen Transformationsprozess, der die Fragen der globalisierten Moderne für das anbrechende 20. Jahrhundert vorformuliert.
Die Logik der Quarantäne
Marcel Proust, der mit nur 51 Jahren starb, verbrachte seine letzten Lebensjahre in einem mit Kork isolierten Zimmer. Adorno vertrat die These, er habe die Quarantärelogik seines Vaters zum Gesetz des eigenen Lebens gemacht.
Lothar Müller spürt dieser und anderen Thesen in seinem Buch nach, stößt hinein in die kolonialen Phantasmen des Fin de Siècle, bereist mit Freud und Charcot das literarisch fruchtbare Reich der Hysterie und zeigt, wie bei Marcel Proust der Freudsche Leitsatz vom Ich, das nicht mehr Herr im eigenen Haus sei, seine zwingende literarische Form gefunden hat.