Lothar Müller: "Freuds Dinge"

Requisiten des bürgerlichen Alltags

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Das Cover von "Freuds Dinge: Der Diwan, die Apollokerzen & die Seele im technischen Zeitalter" und Möbel im Freud-Museum Wien. Im Hintergrund sieht man durch eine Lupe eine Münze mit Sigmund Freud.
In "Freuds Dinge" geht es um Gegenstände und Alltagsdinge aus der bürgerlichen Lebenswelt von Sigmund Freuds Psychoanalyse. © Die Andere Bibliothek / dpa / picture alliance / Filip Singer
Von Matthias Greffrath |
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Kerzen, Möbel, technische Apparate: Lothar Müller zeigt in "Freuds Dinge" Gegenstände aus der bürgerlichen Lebenswelt aus der Zeit von Sigmund Freuds Psychoanalyse. Ein unterhaltsames, belehrendes und elegant gestaltetes Buch.
Lothar Müllers Essay über "Freuds Dinge" folgt der Prämisse, dass "unser Zeug mitarbeitet an unseren Gedanken". Die Gegenstände unserer Erfahrungswelt prägen und färben nicht nur unser alltäglichen Denken und Träume – sie wirken auch mit an der Bildung wissenschaftlicher Theorien. Und das gilt auch für die Psychoanalyse.

Elektrische Maschinen und seelische Krankheiten

An ihrem Anfang stehen Apparate: Müllers Darstellung beginnt mit Magneten und elektrische Influenzmaschinen, mit denen seelische Krankheiten im 19. Jahrhundert behandelt wurden, etwa im Labor des großen Neurologen Charcot in Paris, bei dem Freud lernte. Metaphern von Dampf und Elektrizität, der Energien des Industriezeitalter, formen seine ersten theoretischen Annäherungen an den "seelischen Apparat", eine "Lustpumpe" – den Kalauer gestattet er sich – reguliert den Innendruck des Triebkessels.

Aber all diese Apparate einer objektivierenden Wissenschaft – zuletzt das Mikrotom, mit dem man feine Gewebeschnitte vom Gehirn herstellte – und die aus ihnen gewonnenen Gleichnisse. Sie verschwinden aus Freuds Praxis, in der seit 1890 ein ganz anderes Ding steht: die analytische Couch und auf ihr der Smyrnateppich, das Sinnbild eines Gewebes aus tausenden von Verknüpfungen.


Und aus Dingen, die in den Träumen, in den Assoziationen auf der Couch vorkommen, Alltagsdingen aus der Lebenswelt der Patienten, altbekannten Dingen und Innovationen. Müller versammelt ein ganzes Inventar von Gegenständen der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts: die Apollokerze, den Ankerbaukasten, den Lift, die Rolltreppe, Drehbleistifte – Gegenstände, die in die Träume wandern und die als Traumobjekte nicht unschuldig sind, oft unheimlich, und nie eindeutig.
Aber nicht nur die Bilder des Unbewussten, auch die Theoriebildung selbst trägt einen historischen Index. Lange noch dienen Vergleiche mit zeitgenössischen Technologien als Orientierungen bei der Erforschung des unbekannten Kontinents Seele: Die Verdichtungsmechanismen des Traums ähneln für Freud den Mischbildern, die durch das Übereinanderkopieren von Fotoplatten entsteht. Um die subtile Kommunikation zwischen dem Unbewussten des Analysanden und des Analytikers zu veranschaulichen, greift er zur Analogie des Telefons.
Arbeitszimmer und Couch von Sigmund Freud im Freud Museum in der Wiener Berggasse 19.
Arbeitszimmer und Couch von Sigmund Freud im Freud Museum in der Wiener Berggasse 19.© picture alliance/dpa/Foto: VOTAVA

Müllers Erzählung ist ein archäologisches Unternehmen

Es wird nicht mehr ins Gehirn geschnitten, und das MRT wird erst 100 Jahre später erfunden. So tastet sich Freud mit Metaphern, mit Gedankenexperimenten, mit dem Material der analytischen Gespräche immer weiter ins Reich der Seele – ausgestattet mit dem Fundus der Menschheitsgeschichte, ihrer Dichtungen, ihrer Religionen.
Zentral für Freuds Dingwelt ist deshalb seine Sammlung antiker Statuetten. Die Passion für Archäologie verweist auf das Verfahren der Psychoanalyse, eine Bewusstseinsschicht nach der anderen abzutragen, bis sie den Grund der Neurose findet. Das griechische Drama vom König Ödipus beleuchtet einen Konflikt der Kindheit, der nicht weniger groß und tragisch ist, und gibt ihm einen Namen.


Freuds Rekurs auf die Antike, seine Vorliebe für Klassikerzitate haben noch eine andere, werbewirksame Funktion: Sie machen das Anstößige der Psychoanalyse, (Drekkologie, scherzt er in privaten Briefen) kompatibel mit der Lebenswelt der bildungsbürgerlichen Schichten des 19. Jahrhunderts, die an Häuserfassaden, in Ordnungseinrichtungen, an Reklamewänden die Antike mit Karyatiden, Atlanten und Nymphen zitiert.
Lothar Müllers Erzählung von Kerzen, Möbeln, technischen Apparaten, Büchern, Wohnungen, Zeitungsschnipseln, Kunstwerken und Alltagsdingen aus dem Inventar des 19. Jahrhunderts ist selbst ein archäologisches Unternehmen. Seine Fundstücke schießen zusammen zu einem facettenreichen Bild des Weltbilderschütterers Freud und der Welt, in der er lebte.
Das Größte und das Kleinste, das Profane wie das Erhabene, das Anekdotische wie das tief Gründende. Nichts ist zu klein, zu unbedeutend, zu irrational, um zum Bild des Ganzen beizutragen. Die psychoanalytische Aufmerksamkeit sammelt Puzzlestücke aus Disparatem, bis sich am Ende das Bild einer bis dahin ungewussten Wirklichkeit ergibt. Das ist eine Form der Wahrheitssuche, die der des Essays ähnelt. Auch insofern wird Lothar Müllers unterhaltsames, belehrendes und elegant gestaltetes Buch seinem Gegenstand gerecht.
Undatierte Aufnahme von Sigmund Freud
Undatierte Aufnahme von Sigmund Freud: Mit Metaphern und Gedankenexperimenten tastete er sich ins Reich der Seele.© imago/United Archives International

Lothar Müller: "Freuds Dinge. Der Diwan, die Apollokerzen und die Seele im technischen Zeitalter"
Die Andere Bibliothek, Band 410
Aufbau Verlag, Berlin 2019
420 Seiten, 42,00 Euro

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