Louis-Ferdinand Céline: "Tod auf Raten"
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Rowohlt Verlag, Hamburg 2021
816 Seiten, 38 Euro
Kleinbürger, Großschriftsteller, Antisemit
09:54 Minuten
Muss man Louis-Ferdinand Célines Texte heute noch lesen? Unter moralischen Gesichtspunkten kann man das bezweifeln. Die radikale, rohe Kraft seiner Sprache aber ist ein Ereignis.
Louis-Ferdinand Céline ist einer der sprachmächtigsten und zugleich problematischsten französischen Schriftsteller. Ende der Dreißigerjahre hat er wüste antisemitische Traktate veröffentlicht, wie die berüchtigten "Bagatelles pour un massacre".
Nach der Besatzung Frankreichs kollaborierte er mit den Nationalsozialisten, zusammen mit der Vichy-Regierung floh er am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Sigmaringen.
Als vor einigen Jahren sein französischer Verlag die Pamphlete in einer kommentierten Neuauflage herausbringen wollte, musste Gallimard das Projekt wegen massiver Proteste wieder fallen lassen. Die Symbolik einer solchen vermeintlichen verlegerischen Adelung stand dem entgegen.
Auch offizielle Ehrungen des Schriftstellers sorgen bis heute in Frankreich für Polemik. Natürlich sind diese ressentimentgeladenen Texte ebenso leicht im Internet zu finden wie etwa "Mein Kampf" – die wissenschaftlich erläuterte Edition ist in diesem Frühjahr in Frankreich unter großer medialer Aufmerksamkeit erschienen.
Radikal und teilweise autobiografisch
Louis-Ferdinand Céline, 1894 nordwestlich von Paris geboren, hieß eigentlich Destouches. Als Pseudonym wählte er den Vornamen seiner Großmutter. Er diente als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg und war später bis zu seinem Tod 1961 als Arzt tätig.
Sein Ruf als einer der schillerndsten, radikalsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts geht vor allem auf zwei Romane zurück, die zeitlich vor den antijüdischen Tiraden entstanden sind: "Die Reise ans Ende der Nacht" (1932) und dessen Fortsetzung "Mort à crédit" (1936), die nun in einer Neuübersetzung unter dem Titel "Tod auf Raten" erschienen ist.
Die beiden Romane sind von autobiografischen Elementen inspiriert, der Protagonist heißt Ferdinand. Im Zentrum von "Tod auf Raten" stehen dessen Kindheitserlebnisse in Paris.
Der Junge ist ein Herumtreiber, der in der Schule versagt, sich mit falschen Freunden einlässt, von den Eltern immer wieder halbtot geprügelt wird. Die Mutter verkauft Spitzen, die sie in unterwürfiger Geste den Damen der feineren Pariser Gesellschaft andient. Die wirtschaftliche Existenz steht immer kurz vor dem Zusammenbruch.
Der strenge Geruch des Großstadtproletariats
Die Atmosphäre ist erstickend, erdrückend, von Kleinbürgergeist, Ressentiment und Gewalt geprägt. Die erwachende Sexualität bricht sich in ungezügelter Weise Bahn, ganz gleich ob mit anderen Jungs oder älteren Frauen, gegen Geld oder sonstige Leistungen.
Der Text dünstet Schweiß, Sperma, Kot und Urin aus. Der Gestank monatelang ungewaschener Füße zählt zu den angenehmeren Gerüchen. Nicht nur die expliziten, mitunter fast an die Karikatur grenzenden Beschreibungen menschlicher Ausdünstungen und Triebhaftigkeit hatten die Leser in den Dreißigerjahren schockiert und fasziniert.
Die "kleine Musik" der Gossensprache
Céline führte die derbe Gossensprache, das Pariser Argot, in die Literatur ein, diesen rauen, unerbittlichen, auch grotesk-komischen Stil mit seinen unzähligen Wörtern für Geschlechtsteile und Praktiken aller Arten.
Célines Sprache – diese "kleine Musik", wie er sie selbst nannte – ist atemlos. Seine berühmten Auslassungspunkte, die elliptische Erzählweise, peitschen den Text über fast 800 Seiten voran.
Hinrich Schmidt-Henkel, erfahrener Céline-Übersetzer, hat diese Suada auch diesmal wieder in herausragender Weise ins Deutsche gebracht. Die Masse der schwierig bis gar nicht übersetzbaren Begriff hat er grandios bewältigt. Sein Nachwort ordnet Céline als Autor und Mensch in all seiner ambivalenten Komplexität hervorragend ein.
Literarische Gelbweste
Muss man die Texte eines solchen Berserkers heute noch lesen, gar neu übersetzen? Unter moralischen Gesichtspunkten mag man bezweifeln, ob ein Autor, der sich heutzutage womöglich als Querdenker, Reaktionär oder zumindest literarische "Gelbweste" in der Öffentlichkeit positionieren würde, wieder ins Gedächtnis gerufen werden muss.
Die radikale, rohe Kraft seiner Sprache, die dem Volk aufs Maul schaut und tief in die Abgründe der französischen Klassengesellschaft der Zwischenkriegszeit blicken lässt, machen seine Romane jedoch zu einem schauerlich-faszinierenden Dokument der Literaturgeschichte.