Louis-Philippe Dalembert: "Die blaue Mauer"

Erniedrigt, geschlagen, ermordet

05:33 Minuten
Cover des Romans von Louis-Philippe Dalembert mit dem Titel "Die blaue Mauer".
Verleiht den Flüchtlingen Gesichter, Geschichten und Stimmen: Louis-Philippe Dalembert. © Deutschlandradio / Nagel & Kimche
Von Victoria Eglau |
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Louis-Philippe Dalemberts Roman "Die blaue Mauer" hat einen realen Hintergrund: ein Massaker, das sich auf einem überfüllten Flüchtlingsboot im Mittelmeer ereignete. Eindringlich beschreibt der Autor die Gewalt, die auch unter den Flüchtenden eskaliert.
"Massaker auf Flüchtlingsschiff" betitelte im Juli 2014 "Der Spiegel" einen Artikel über ein völlig überfülltes Boot im Mittelmeer, das von dem dänischen Öltanker Torm Lotte aus Seenot gerettet wurde. Von den rund 750 Menschen, die die Küste Italiens erreichen wollten, hatten etwa 180 die Überfahrt nicht überlebt. Doch nur ein Teil der Flüchtlinge aus arabischen und afrikanischen Ländern ertrank – die anderen wurden an Bord ermordet.
Es war diese Höllenfahrt, die den Schriftsteller Louis-Philippe Dalembert (Port-au-Prince, Haiti, 1962) zu seinem Roman "Die blaue Mauer" inspirierte. "Mur Méditerranée" lautet der französische Originaltitel. Die blaue Mauer, die jedes Jahr Zehntausende Verzweifelte zu überwinden suchen, wobei Tausende ihr Leben lassen, ist das Mittelmeer.

Drei Frauen im Mittelpunkt

Ausgehend von dem, was sich später über die blutigen Ereignisse auf dem Flüchtlingsschiff rekonstruieren ließ, schreibt Dalembert seine fiktive Geschichte. In den Mittelpunkt stellt er drei Frauen.
Chochana stammt aus einer jüdischen Igbo-Gemeinde in Nigeria und flieht vor Armut und Perspektivlosigkeit. Die Christin Semhar will dem viele Jahre dauernden Militärdienst in Eritrea entkommen, der sie ihrer Jugend beraubt. Und die Muslimin Dima und ihre Familie sind Bürgerkriegs-Flüchtlinge aus dem syrischen Aleppo.
Im Laufe der monatelangen gefährlichen Odyssee, die sie zunächst nach Libyen und dann übers Meer führt, kreuzen sich ihre Wege.
Die Ausgangsbedingungen für ihre Flucht könnten allerdings nicht unterschiedlicher sein: Chochana und Semhar müssen das Geld für die Schlepper-Organisation mühsam zusammenkratzen. Sie verbringen Monate in menschenunwürdigen Unterkünften, werden von den Schleppern erniedrigt, geschlagen, ausgebeutet und vergewaltigt.
Dagegen reist die wohlhabende Dima mit Mann und Töchtern per Flugzeug nach Libyen und genießt das "Privileg", sich bei der Mittelmeer-Überquerung ein Plätzchen an Deck suchen zu dürfen.

Die Gewalt der Schlepper

Auf Schwarze wie Chochana und Semhar blickt Dima buchstäblich herab: Die beiden Frauen aus Nigeria und Eritrea sind mit vielen anderen Afrikanerinnen und Afrikanern im engen Frachtraum des armseligen Fischtrawlers zusammengepfercht worden – mehrere ersticken während der Überfahrt.
Die von Dalembert drastisch geschilderte Situation entspricht den tatsächlichen Zuständen auf dem Flüchtlingsboot, auf dem es 2014 zu dem Gemetzel kam, als die "Unterklasse-Passagiere" in Todesangst nach oben aufs Deck drängten. Dutzende wurden von einer Gruppe Männer erstochen oder erschlagen. Der Rassismus und die Ungleichheit unter den Flüchtlingen und die Gewalt der Schlepper, die Dalembert thematisiert, sind schockierend.
Was "Die blaue Mauer" aber besonders lesenswert macht, ist, dass der Autor jenen Menschen, die in der Regel als anonyme "Flüchtlings-Masse" wahrgenommen werden, Gesichter, Geschichten, Stimmen und starke Charaktere verleiht. Am Beispiel von Chochana, Semhar und Dima erfahren wir, wie schwer die Entscheidung ist, die Heimat hinter sich zu lassen und ins Ungewisse aufzubrechen.
Dem Autor gelingt es zudem, die Schreckensfahrt übers Mittelmeer höchst eindringlich nachvollziehbar zu machen – auch, weil er mit immer neuen Worten auf beklemmende Weise beschreibt, wie die verängstigten Flüchtlinge in ihrer Nussschale der Naturgewalt des Mittelmeers hilflos ausgeliefert sind.

Louis-Philippe Dalembert: "Die blaue Mauer"
Aus dem Französischen von Christine Ammann
Nagel & Kimche, Zürich 2021
320 Seiten, 24 Euro

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