Lucia Leidenfrost: "Wir verlassenen Kinder"
Kremayr & Scheriau, Wien 2020
192 Seiten, 19,90 Euro
Jähes Ende der Kindheit
06:28 Minuten
Ein Dorf irgendwo: Langsam verlassen alle Erwachsenen den Ort, zurück bleiben die Kinder. Sie müssen Überlebensstrategien entwickeln und werden jäh aus ihrer Kindheit gerissen. "Wir verlassenen Kinder" liest sich wie eine nüchterne Fallstudie.
Eine Rundfunkreportage über auf sich gestellte Kinder in Moldawien wirkte auf Lucia Leidenfrost wie eine Initialzündung. Sie imaginiert, was Kinder tun, denen die Eltern beim Abschied nicht einmal Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen machten.
Im Dorf geblieben sind ein paar Großeltern, der verwitwete Bürgermeister, eine Lebensmittelhändlerin, die den Kindern Zucker, Öl und Mehl verkauft, ein Bankangestellter, eine Wirtin, ein Schmied und ein Automechaniker. Schließlich gehen auch sie weg. Aus den zurückgelassenen Kindern werden Verlassene, Verratene.
Dachten sie anfänglich, ihre Eltern seien in Nachbarstädte gezogen, um das Existenzminimum zu verdienen, so verdichten sich die Zeichen, dass das unbestimmte Land, in dem Lucia Leidenfrost ihren Roman ansiedelt, zu einem Kriegsgebiet geworden ist. Am Himmel dröhnen "blecherne Vögel" und im Nachbardorf hat eine Bombe einen tiefen Krater gerissen.
Die Kinder können den Krieg nicht denken, aber Leidenfrost schreibt zielgerichtet auf den Punkt hin, an dem sie ihn "endlich sehen" wollen und ihre Unschuld verlieren. Die Unerbittlichkeit, mit der sie diese psychische Wegstrecke abmisst, ist packend und beklemmend.
Für Realitätssinn bestraft
Die 1990 in Österreich geborene Sprachwissenschaftlerin und Autorin erzählt die Geschichte der verlassenen Kinder in ein- bis zweiseitigen Kapiteln und aus wechselnder, personaler Perspektive. Ein kollektives "Wir", das sich schnell als "ein Körper" begreift, stellt die Regeln für das soziale Miteinander auf.
"Mila" entwickelt sich rasch zu einer Kraft, die die Gruppe herausfordert. Es kommt zu Machtproben und zur Ächtung der Grenzverletzerin, die als einzige Figur individuelle Züge trägt und über deren Familiengeschichte wir Details erfahren.
Betont entschieden und in kurzen, kunstlosen Aussagessätzen schildert Leidenfrost die Überlebensstrategien der verletzbaren Kinderschar. Die rasche Ausblendung der Erinnerungen gehört dazu. Stolz behaupten die Verlassenen, sie wollten "von den Erwachsenen nicht mehr gestört werden".
Und streng bestehen sie auf der unbedingten Einhaltung eines gemeinsam beschlossenen Verhaltenskodex. Das Verbot, den Besitz der Anderen anzurühren, ist die wichtigste Regel. Das Mädchen Mila hingegen dringt heimlich in unbewohnte Häuser ein. Sie will "Geister wecken" und sucht nach einer Verbindung zum Leben der Abwesenden.
Dass sie Kleidung entwendet, bedeutet, dass sie jeden Glauben an deren Rückkehr aufgegeben hat. Diese Gewissheit skandalisiert das Kollektiv. Es bestraft Mila für den Diebstahl, aber mehr noch für ihren Realitätssinn.
Etwas mehr Zärtlichkeit
Das sich an Regeln klammernde "Wir" ist ein trauriges Häufchen, das spürt, wie es verwildert. Es spielt immer noch gern Prinzessin und Ritter und plant doch eine Aktion, mit der es die Kindheit bewusst auslöscht.
Lucia Leidenfrosts Roman vergegenwärtigt eindringlich zeitloses Unglück und die unauslöschliche Hoffnung auf ein besseres Leben – so schematisch dies in der Vorstellung auch bleibt.
Der zwischen Verhärtung und manchmal auch kindlicher Naivität changierende Erzählton passt zur Extremsituation. Dennoch bleiben die Protagonisten bis auf Mila zu konturlos. Verglichen mit Liljana Corobcas Episodenroman "Der erste Horizont meines Lebens" über massenhaft allein gelassene Kinder in Rumänien liest sich Leidenfrosts Prosa wie eine nüchterne Fallstudie.
Ein Buch über die immense Anstrengung, die Kinder aufbringen, um sich am Leben zu halten, dürfte etwas mehr Zärtlichkeit zulassen.